Der Spitzenverband der Fachärzte (SpiFa) fordert von der Bundesregierung einen Kurswechsel bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Statt zu wenig erprobte Insellösungen durchzudrücken, müssten integrierte Lösungen für den Versorgungsalltag entworfen werden. Ansonsten seien die bisherigen Anwendungen vom E-Rezept bis zur elektronischen Patientenakte (aPA) nur „Krücken“ ohne einen tatsächlichen Nutzen für die Leistungserbringer, erklärte der SpiFa-Vorsitzende Dr. Dirk Heinrich am Donnerstag in Berlin.
Die Digitalisierungspolitik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) orientiere sich nicht an den Bedürfnissen des Versorgungsalltags, kritisierte die SpiFa am Donnerstag bei der Vorstellung ihres Positionspapiers zum Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Es brauche eine Neuausrichtung der Digitalisierung, Anwendungen dürften erst eingeführt werden, wenn sie ausreichend erprobt wurden und einen wirklichen Nutzen für die Patienten haben. „Es nützt uns nichts, ein E-Rezept zu haben, das ich dann ausdrucken muss. Das ist eine Krücke“, so Heinrich. „Wir brauchen Lösungen, die erprobt sind und dann auch tatsächlich funktionieren. Die Verantwortlichkeiten für möglicherweise entstehende Fehler müssen dabei klar sein.“
Dabei hob Heinrich nicht nur auf die Erprobung und Anwendnungssicherheit von E-Rezept & Co. ab, sondern fasste seine Kritik viel grundlegender: Digitale Lösungen müssten nicht nur alleingestellt funktionieren, sondern die Versorgung als Ganze denken. „Für mich sind das größte Problem bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens die unterschiedlichen Datenstandards. Wenn sie sich überlegen, was man eigentlich alles mit KI machen könnte, dann fange ich schon an zu träumen“, sagte Heinrich. „Aber das setzt voraus, dass wir die gleiche Sprache sprechen.“ Das beziehe sich sowohl auf die Interoperabilität der Systeme, als auch auf den Aufbau der Anwendungen.
So würden in Krankenhäusern meist SAP-basierte Systeme zum Einsatz kommen, im Praxisbereich hingegen eher Windows-basierte. „Und das muss man erst mal zueinander bringen. Was nützt mir eine elektronische Patientenakte, die letztendlich nur ein elektronischer Leitz-Ordner ist, in dem sich zig Pdf befinden? Das sind keine integrierbaren Daten!“ Notwendig sei stattdessen die Entwicklung einer elektronischen Fallakte, in der die Daten integriert und durch Algorithmen analysierbar vorliegen, „damit ich am Ende ein Exzerpt habe, das mir auf einer DIN-A4-Seite zusammenfasst, was ich über den Patienten wissen muss, bevor ich vielleicht in die Tiefe gehe in der Akte“, erklärte Heinrich. „Solange ich das nicht habe, ist das für uns als Ärztinnen und Ärzte eigentlich nicht nutzbar. Das ist nicht besser als der Patient, der heute zur Tür reinkommt und sagt, ‚Herr Doktor, ich hab‘ ihnen da mal was mitgebracht‘, und einen großen Leitz-Ordner mit 160 Seiten unterm Arm hat, den er ihnen auf den Tisch legt – wo wir heute leider immer sagen müssen ‚Es tut mir leid, das kann ich nicht alles lesen. Dann hätte ich am Tag nur zwei Patienten.‘ Das funktioniert bei 38,50 Euro von den gesetzlichen Krankenkassen einfach nicht.“
Es führe kein Weg daran vorbei, die bisherigen Insellösungen zu integrieren, wenn die nun eingeführten Fachdienste einen wirklichen Nutzen in der Versorgung bringen sollen. Doch Heinrich zeigte sich wenig optimistisch. „Deswegen brauchen wir – und den Ansatz sehe ich noch nicht – große Anstrengungen, bei denen man erst einmal eine gemeinsame Sprache definiert, auf der dann die Datenbasis aufbauen kann“, so der SpiFa-Chef. „Solange wir das nicht haben, sehe ich da ehrlich gesagt relativ schwarz. Das sind alles nur Krücken, die wir da haben.“
Ähnlich sehe es bei den Anwendungen E-Rezept und eAU aus. Es ergebe keinen Sinn, die Praxen mit der Einführung digitaler Anwendungen zu belasten, wenn diese dann ausgedruckt werden müssen. „Wir brauchen richtige digitale Lösungen mit Backup und nicht solche Zwischenlösungen, wie wir sie jetzt bekommen, wo ich dann Rezepte mit einem Token ausdrucke und mich eine 75-jährige Patientin fragt ‚Herr Doktor, was ist das denn? Das kann ich ja gar nicht lesen.‘ Wenn, dann macht man es bitte richtig. Das wird dauern, Deutschland ist weit hinten dran“, so Heinrich. Hinzu komme die „digitale Wüste“: Der SpiFa-Vorstandschef berichtete von Radiologen aus Ostdeutschland, die ihm erzählen würden, dass sie ihre Bilder zwar digital verschicken können – aber das eben eine halbe Stunde dauere. Deutschland fehle vielerorts schlicht nach wie vor die digitale Infrastruktur, um solche Anwendungen verlässlich zu nutzen.
Deshalb sei es so wichtig, funktionierende Back-up-Systeme festzulegen – die „immer mitgedacht“ werden müssten. „Wir alle wissen, dass es Datenprobleme geben kann. Bei mir vor der Praxis haben es die Bauunternehmen, die dort die Straße machen, schon dreimal geschafft, das Telekom-Kabel zu zerhacken, und ich brauche immer ein Backup, mit dem ich den Patienten, die dann mit dringenden Sachen in die Praxis kommen, ein Rezept ausstellen kann.“
Das E-Rezept verändert den Apotheken- und Pharmamarkt. Mit dem Abflauen der Corona-Pandemie wird das E-Rezept zur höchsten Priorität für alle Akteur:innen auf dem deutschen Arzneimittelmarkt. Die Zukunftskonferenz VISION.A von APOTHEKE ADHOC setzt deshalb am 30. März 2022 unter dem Titel „E-Rezept: Chance oder Apothekenkiller“ den Fokus auf E-Rezept-Einführung, den Status Quo und die möglichen Folgen. Tickets sind ab sofort hier buchbar. Reduzierte Earlybird-Tickets zum Preis von 390 Euro zzgl. MwSt. sind bis zum 10. März 2022 erhältlich, danach können reguläre Tickets zum Normalpreis von 490 Euro zzgl. MwSt. erworben werden.
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