Der Countdown läuft weiter: Keine drei Wochen sind es noch bis zum Start der gesetzlichen E-Rezept-Pflicht. Doch nach wie vor weiß kaum jemand, was genau die deutschen Apotheken erwartet. Erst einmal nicht viel, sagt zumindest Hannes Neumann voraus, der bei der Gematik die Abteilung E-Rezept leitet. Die wenigen Rezepte, die kommen dürften, bergen dafür einige Risiken, warnt Abda-Vize Mathias Arnold.
Wie viele Arztpraxen werden im Januar in der Lage sein, echte E-Rezepte zu erzeugen, und werden das auch tun? Offenbar kann das auch kurz vor dem offiziellen Start noch niemand verlässlich vorhersagen. Die Gematik stellt es in ihren offiziellen Verlautbarungen rosig dar: Die Hersteller von Praxisverwaltungssystemen (PVS), die die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) bereits für die Generierung von E-Rezepten zertifiziert hat, vereinigen demnach einen Marktanteil von 94 Prozent auf sich. Können also in drei Wochen fast alle Praxen E-Rezepte ausstellen? Mitnichten, wie Neumann am Mittwoch beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) einräumte. „Die Ärzte planen da in Quartalsstrecken“, erklärte er. „Viele derer, die da zertifiziert sind, bereiten sich erst auf den Roll-out vor und die Vorgehensweise der Hersteller ist da sehr individuell.“
Das heißt: Auch wenn die Schnittstellen zur E-Rezept-Erzeugung zertifiziert sind, müssen die Anbieter ihre Programme erst noch so herrichten, dass die Praxen sie nutzen können: Sie müssen Updates durchführen und im Zweifelsfall auch den nötigen Support bereitstellen. „Das alles ist mit der Zertifizierung noch nicht ausgedrückt“, so Neumann. Erst müssten die Hersteller die Praxen darauf ansprechen, dass die nötigen Updates möglich sind, und die Einrichtung organisieren – es sei also nicht damit zu rechnen, dass zum Jahresbeginn eine allzu große Zahl an Praxen bereit ist.
Dass die KBV die Hintertür des Ausfalltatbestands eigens in eine Richtlinie überführt und den Ärzten damit die Möglichkeit gegeben hat, noch bis Ende Juni Papierrezepte auszustellen, habe zwar für Irritationen bei Gematik und Bundesgesundheitsministerium (BMG) geführt, sei aber letztlich genau der richtige Schritt gewesen, erklärte Jens Naumann, Geschäftsführer des PVS-Herstellers Medatixx. Denn auch bei Medatixx – nach eigenen Angaben mit 21.000 Praxen und 28 Prozent Marktanteil der wichtigste Anbieter nach der CompuGroup und wie ADG im Besitz der Merckle-Familie – wird es wohl so schnell nicht gehen. Denn wenn es schon nicht richtig läuft, kommt meist auch noch Pech dazu: „Wir wollten eigentlich in diesen Tagen mit der Auslieferung beginnen, doch dann kam der Cyberangriff“, so Naumann. Eine Ransomware-Attacke hatte im November große Teile der internen IT von Medatixx gekapert und verschlüsselt, betroffen waren laut Naumann alle Niederlassungen des Softwarehauses – das bis heute mit den Folgen zu kämpfen hat. „Deshalb liefern wir mit Verzögerung Anfang des Jahres aus.“
Der Blick in die Ärzteschaft zeige aber ohnehin, dass das E-Rezept dort alles andere als ungeduldig erwartet wird. Naumann verdeutlichte das anhand von Anekdoten: So habe Medatixx ein digitales Anwendertreffen zum E-Rezept mit 500 Teilnehmern organisiert. „Die erste Frage war, ob das am 1. Januar schon gemacht werden muss, also haben wir auf die KBV-Richtlinie verwiesen. Sofort hatte sich die Teilnehmerzahl um 120 reduziert“, erinnert er sich.
Noch direkter sei der Chef eines großen Ärztenetzes gewesen: Er habe ihn gefragt, ob er auch sicherstellen kann, dass die E-Rezept-Funktion zum 1. Januar noch nicht verfügbar ist. „Man hat uns also aufgefordert, mit der E-Rezept-Auslieferung langsam zu machen, damit man nicht zum Versuchskaninchen wird.“ Es herrsche in der Ärzteschaft mit Blick auf das E-Rezept „vorsichtig gesagt eine angespannte Stimmung“, so Naumann. Die Ärzte hätten das Gefühl, dass sie den Aufwand hätten, damit andere den Nutzen haben. In der Apothekerschaft sehe es nicht viel anders aus. Er wisse von einem PVS-Anbieter in der Region Kiel, der kürzlich die Einlösung eines generierten E-Rezepts erproben wollte und dazu 70 Apotheken angefragt habe. „Die Quote war 70 zu Null. Keine Apotheke konnte es einlösen, nur DocMorris und Shop Apotheke waren dazu bereit.“
Ganz widersprechen konnte Abda-Vize Arnold dem nicht. Zwar seien 98 Prozent der Apotheken rein technisch schon in der Lage, E-Rezepte zu empfangen – aber auch sie sollten nicht allzu schnell machen, rät er: „Wenn der Linksverkehr am 1. Januar eingeführt wird, ist es schlecht, wenn ich schon am 31. Dezember andersherum fahre. Man sollte den richtigen Zeitpunkt für den Start wählen.“ Und den sieht er offensichtlich noch nicht gekommen: Selbst die Gematik räumt mittlerweile ein, dass die bisherige E-Rezept-Erprobung weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. „Diese Zahlen sind uns natürlich nicht genug, da ist noch Raum für eine deutliche Steigerung“, erklärte Neumann ein. Gerade einmal 42 echte E-Rezepte hatten den kompletten Zyklus durchlaufen. Deshalb sei die Testphase im Dezember in eine bundesweite Erprobung übergegangen.
Anders als die Gematik Ende November erklärte, melden sich Ärzte und Apotheken dabei jedoch nicht selbst zur Teilnahme an – vielmehr würden sich die PVS-Hersteller melden und dann Pilotpraxen benennen. Stehen die fest, sollen wiederum Apotheken in der Umgebung für den Testlauf gewonnen werden. In den vergangenen Tagen hätten sich bereits 10 PVS-Hersteller gemeldet.
Doch der Blick auf den Kalender zeigt dann erneut: Es sind nur noch gut zwei Wochen bis zur offiziellen Einführung. Arnold fand auch deshalb deutliche Worte zur Erprobung: „Die Tests sind bis jetzt nicht ausreichend, das muss man leider konstatieren“, so der Abda-Vize. „Das ist die Realität, wo wir stehen. Es gab zu wenige teilnehmende Akteure, zu wenig Durchlauf und eine verspätete Beobachtung des Gesamtprozesses.“ Der Teufel liege aber im Detail, Ziel müsse ein „Null-Fehler-Prozess“ sein. „Bei einem Flugzeug will man nach der Erprobung auch nicht davon ausgehen, dass das eine oder andere vielleicht noch abstürzt. Ich weiß nicht, ob Sie in ein Flugzeug steigen würden, wenn man ihnen sagt, dass das erst 50-mal getestet wurde – auch wenn man ihnen sagt, die Einzelkomponenten funktionieren gut, die Reifen haben wir ausreichend auf dem Reifenstand getestet und bereits dreimal an das Flugzeug montiert.“
Dass einzelne Komponenten funktionieren, sei bei weitem nicht ausreichend, um den Betrieb des riesigen und komplexen Gesamtsystems zu gewährleisten. „In Deutschland werden jedes Jahr 850 Millionen Rezepte ausgestellt und wir sagen, weil es bei 42 Rezepten geklappt hat, wird es bei den restlichen auch klappen. Das ist sehr sportlich“, so Arnold. „Die bisher abgerechneten Rezepte wurden alle per Hand kontrolliert. Das klappt bei 850 Millionen E-Rezepten nicht.“ Insbesondere die Abrechnung der Rezepte bereite ihm nach wie vor Sorgen. „In der Apotheke fehlen die Prüfmechanismen“, so Arnold. Wenn Rezept in der Praxis mit Fehlern ausgestellt wird, könne die Apotheke das nicht prüfen, sondern merke es schlimmstenfalls erst, wenn die Abrechnung nicht funktioniert. Arnold verglich es mit einem nicht unterschriebenen Scheck: „Sie haben eine Leistung erbracht und wollen den bei der Sparkasse einlösen, das geht dann aber nicht – und derjenige, der den Scheck unterschrieben muss, ist schon weg. Dann bleibt die Apotheke auf dem Scheck und damit den Kosten sitzen.“
Insbesondere die Tatsache, dass es keine Friedenspflicht gibt, die die Apotheken beim E-Rezept vor Retaxationen der Kassen schützt, erschwere die Situation. „Wir haben zum Beispiel das Problem, dass Quittungen nicht identisch sind und von den Kassen nicht anerkannt werden. Gleichzeitig haben wir aber den Kontrahierungszwang und können uns nicht aussuchen, ob wir ein Rezept bedienen oder nicht“, so Arnold. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir ab dem 1. Januar diese Rezepte in Empfang nehmen müssen, ohne dass eine ganze Reihe von Problemen gelöst sind, beispielswiese, ob die Kasse die Quittungen zur Abrechnung annimmt“, warnt er. „Wir laufen da möglicherweise in ein offenes Messer.“
Das BMG hatte da schon vorausschauend beschwichtigt: Es sei „in der Tat ein sehr sensibles Thema, dass auch die Abrechnungswege ungestört bleiben müssen. Ich glaube, dass hier der entscheidende Punkt ist, dass das E-Rezept nicht als Big Bang zu uns kommt, sondern sukzessive in die Versorgung eingeführt wird“, hatte zuvor Jan Hensmann erklärt, der im BMG das Referat „Grundsatzfragen der Gematik, Telematikinfrastruktur und eHealth“ leitet. Er hoffe jedoch auf einen „dynamischen Start“ und denke, dass sich die E-Rezept-Zahlen schnell entwickeln würden: „Ich glaube, dass wir eine hohe Anlaufkurve sehen werden.“ Neumann wiederum spielt beim Thema Abrechnung auf Zeit: „Für die Abrechnung müssen wir natürlich immer betonen, dass das etwas ist, was nicht in Echtzeit passiert, sondern dass immer ein Nachlauf von sechs bis acht Wochen einzurechnen ist, bis dann auch die Apotheken Bescheid erhalten, dass die Abrechnung funktioniert hat.“
Aus Arnolds Sicht reicht die Perspektive, E-Rezepte zu bedienen und dann erst zu schauen, ob deren Abrechnung auch richtig funktioniert, nicht aus. Auch deshalb plädiere er dafür, dass die Einführung des E-Rezepts nach hinten verschoben und es vorher ausreichend getestet wird. „Wir brauchen mehr technische Reife des Gesamtsystems“, so Arnold. Auch gegen die Gematik legte er dabei nach: „Wir müssen dafür sorgen, dass wir eine echte, transparente und ehrliche Kommunikation zustande bringen.“ Denn daran mangelt es nicht nur aus Arnolds Sicht bisher. Auch Naumann fand deutliche Worte in Richtung der Gematik: Es sei bisher nicht klar, welche Rolle sie genau einnehme – auch das führe zu Schwierigkeiten bei der E-Rezept-Einführung. „Wir haben die Sorge, dass die Gematik aus der Rolle des Spezifizierers, des Koordinators, in die Rolle des Anbieters und Betreibers geht“, sagte er. „Es gibt böse Stimmen, die bereits sagen, dass der VEB Gematik die eine monolithische E-Rezept-Lösung macht, die dann alle nutzen müssen.“
Er plädiert dafür, auch die Industrie stärker in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Bisher gab es ja bereits offensichtliche Probleme mit fehlender Einvernehmlichkeit, die die Rebellion der Gematik-Gesellschafter erst kürzlich eindrücklich verdeutlichte. Auch hier beschwichtigte das BMG: „Dass hier durchaus manchmal auch spannende Themen auftauchen, bei denen manche denken, es hätte noch besser laufen kann, kann ich mir gut vorstellen“, so Hensmann. Naumann hingegen machte nun deutlich, dass auch in der Industrie wachsender Unmut über das Vorgehen der Gematik herrscht. „Es wäre besser, wenn ein deutlich größeres Mitspracherecht der Industrie gesetzlich verbrieft wäre.“ Denn die habe aus der Praxis heraus genauere Erfahrungen, welche Bedürfnisse es gibt, als es die Gematik hat, erklärte er. „Uns wäre es am liebsten, wenn die Gematik eine klare Rolle als Spezifizierer und Koordinator bekommt, aber nicht zum eigenen Softwareanbieter wird. Denn es wäre eine fatale Entwicklung, wenn derjenige, der uns die Konformitätsregeln vorgibt, mit eigenen Produkten in Konkurrenz zu uns tritt.“
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