Es wirkt, als fahre das Gesundheitswesen mit dem E-Rezept sehenden Auges auf eine Wand zu – aber niemand ist da, der das Lenkrad noch rumreißen kann. Den Ärzten konnte man noch mangelnde Bereitschaft unterstellen, aber das Aufbegehren der anderen Leistungserbringer ist eine ganz offensichtliche Verzweiflungstat. Allerdings kam die zu spät, kommentiert Tobias Lau.
Dass Apotheker, Ärzte, Zahnärzte und Kliniken in der Gesundheitspolitik derart entschieden an einem Strang ziehen, ist etwas Besonderes. Besonders sind allerdings auch die Umstände: Gut vier Wochen sind es noch bis zur gesetzlichen E-Rezept-Einführung und das Land steckt mitten in der bisher schlimmsten Pandemiewelle. Es gibt einige Probleme, die gerade weitaus drängender erscheinen als die Einführung elektronischer Verordnungen. Doch dabei dürfte die Praxisferne der meisten Gesundheitspolitiker nicht gerade dazu beitragen, den Ernst der Lage zu erkennen. Dass die Gematik-Gesellschafter einen derartigen Affront begehen, ist deshalb insbesondere als Weckruf an die Gesundheitspolitik zu verstehen, endlich zu handeln.
Von der jetzigen Ressortleitung haben sie dabei offensichtlich nichts mehr zu erwarten. Das Bundesgesundheitsministerium hat sich in der Gesellschafterversammlung der Gematik scheinbar taub gegenüber allen fachlichen Einwänden gezeigt. Dass die Spitzenverbände nun die Indiskretion begehen, Inhalte aus den Versammlungen öffentlich zu machen, zeigt, wie zerrüttet das Verhältnis mittlerweile sein muss.
Und die Gematik? Die mauert weiterhin und widerspricht ihren Gesellschaftern. „Festzuhalten ist: Die E-Rezept-Tests sind aussagekräftig“, erklärt eine Sprecherin auf Anfrage. „Denn die Abläufe des E-Rezepts wurden in verschiedenen Szenarien und mit den unterschiedlichen Komponenten und Beteiligten getestet.“ Fragen zu den Mengengerüsten, zur Zahl der verarbeiteten E-Rezepte lässt sie genauso unbeantwortet wie Fragen zu jenen Gesellschafterversammlungen, in der das BMG seine Entscheidungen gegen die fachlichen Einwände der Leistungserbringer durchgedrückt haben soll. Die Botschaft ist eindeutig: Das E-Rezept wird im Arkanbereich der Regierungspolitik entwickelt. Öffentliche Transparenz wird nicht hergestellt. Die Gematik verhält sich damit wie ein Privatunternehmen, das über eine Neuentwicklung den Mantel der Geheimhaltung hüllt.
Erst die Indiskretion der rebellierenden Gesellschafter machte einige wesentliche Fakten bekannt: Beispielsweise, dass es in fünf Monaten gerade einmal gelungen ist, 42 echte E-Rezepte zu verarbeiten. Seit eh und je hatten sich alle Verantwortlichen um eine klare Aussage gedrückt. Gleichzeitig verdeutlicht es die Augenwischerei der offiziellen Kommunikation: 2 Millionen Verordnungen werden in Deutschland täglich ausgestellt. Wie kann ein Test „erfolgreich“ sein, wenn es in fünf Monaten nur gelingt, gerade einmal 42 Stück zu generieren? Das einzelne E-Rezept ist nicht das Problem, sondern die schiere Masse in hunderten verschiedenen Kombinationen aus Praxisverwaltungssystemen, Warenwirtschaften, Abrechnungsdienstleistern und Krankenkassen.
Die bereits von der KBV zertifizierten Praxisverwaltungssysteme haben laut Gematik einen Marktanteil von 94 Prozent – demnach müsste trotz des im Patientendatenschutzgesetz definierten und von der KBV mit einer Richtlinie festgezurrten Ausfalltatbestands die übergroße Mehrheit der Ärzte ab dem 1. Januar ausschließlich E-Rezepte ausstellen. Eine weitere Handhabe, sich gegen die Einführung des unzureichend getesteten E-Rezepts zu wehren, hat auch die KBV nicht. Gleichzeitig ist aber offensichtlich, dass es am anderen Ende des Prozesses noch massive Probleme gibt. Was passiert also, wenn E-Rezepte ausgestellt werden, dann aber nicht richtig abgerechnet werden können? Oder es irgendwo dazwischen zu Fehlern kommt?
In der Privatwirtschaft mag es zulässig sein, über solche Fragen und Probleme in der Entwicklung eines Produkts Stillschweigen zu bewahren. Aber die Gematik gehört dem Bund und führt einen gesetzlichen Auftrag aus, das E-Rezept wird mit Steuer- und Beitragsgeldern entwickelt. Vertraut man als Anwender einem Produkt nicht, kauft man es nicht. So einfach ist das. Zur Verwendung des E-Rezepts sind die Leistungserbringer aber verpflichtet. Hier gelten andere Standards als bei der Entwicklung einer privatwirtschaftlichen Anwendung, die zum Verkauf steht. Nicht umsonst fällt das BMG mit seiner 51-Prozent-Mehrheit die Entscheidungen eigenständig.
Das führt auch zum Ende seiner Amtszeit noch einmal die Politik des geschäftsführenden Gesundheitsministers vor: Seit Amtsantritt war es Jens Spahns Mantra, über Pläne und Ziele im Gesundheitswesen in den offenen und ehrlichen Austausch zu treten. Bei so ziemlich jedem öffentlichen Auftritt vor der Pandemie hatte er die Bedeutung von Transparenz und intensivem, aber fairem Streit betont. Nun zeigt sich, dass das für seine eigene Arbeit nicht gilt. Hier gelten politische Meilensteine weit mehr als fachliche Einwände. Freilich: Die Selbstverwaltung hat die Digitalisierung über Jahre verschleppt. Es ist ein Verdienst Spahns, die Weichen dafür gestellt zu haben, das deutsche Gesundheitswesen endlich ins 21. Jahrhundert zu führen. Doch das ist kein Freifahrtschein, es entschuldigt nicht die Bevorteilung bestimmter Segmente gegenüber anderen – Stichwort Versender – und erst recht nicht, sich aus politischen Gründen über fachliche Einwände einfach hinwegzusetzen.
Hinzu kommt die Verantwortungsflucht: Denn niemand außer Bundestag und -regierung kann die E-Rezept-Einführung zum 1. Januar noch stoppen. Sie steht im PDSG verankert, es bräuchte also eine Gesetzesänderung. Und das Land befindet sich just jetzt in der Zwischenphase, in der die neue Bundesregierung noch nicht zuständig ist und die alte sich offensichtlich nicht mehr zuständig fühlt.
Wer das Gesundheitsressort künftig führen soll, wurde noch nicht einmal verkündet. Doch auch ohne die Personalie: Weder aus den Reihen der SPD noch aus denen ihrer Koalitionspartner war in den vergangenen Wochen etwas Substanzhaltiges zum Thema E-Rezept zu hören. Möglich, dass es eine der ersten Amtshandlungen wird, den E-Rezept-Start abzublasen. Aber es bleibt kaum noch Zeit.
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