Als Bundesgesundheitsminister wollte Jens Spahn (CDU) das Gesundheitswesen umfassend digitalisieren. Doch laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) haben die Pannen rund um die Einführung des E-Rezepts in den Praxen für erheblichen Frust und zunehmende Skepsis gesorgt. Aus Sicht der Ärztevertreter war die Einführung mit der Brechstange absolut kontraproduktiv. Wenn sich nichts ändert, steht für sie sogar ein Ausstieg aus der Gematik im Raum.
Laut KBV haben die Erfahrungen des vergangenen Jahres die niedergelassenen Ärzt:innen regelrecht verschreckt, was das Thema Digitalisierung angeht. Ausfälle, unausgereifte Konzepte, fehlende Angebote und vor allem das Durchboxen von Fristen hätten für Frust gesorgt, so KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister. Beim E-Rezept habe die Politik billigend in Kauf genommen, dass ein „nachweislich nicht einwandfrei funktionierendes System“ eingeführt werde. „Das ist so, als ob Sie ein neues Auto auf den Markt bringen, das noch nicht einmal auf der Teststrecke überzeugt hat.“
„Die Ignoranz der politisch und technisch Verantwortlichen hat Konsequenzen: Die Erwartungshaltung der Praxen an die Digitalisierung ist regelrecht eingebrochen“, so Hofmeister mit Verweis auf eine aktuelle Umfrage unter Ärzt:innen. Enttäuschung und Frust machten es schwierig, selbst diejenigen noch zu motivieren, die bislang optimistisch gewesen seien.
Die Politik ist nonchalant davon ausgegangen, dass die Praxen ein Experimentierfeld für die Digitalisierung sein könnten – und das mitten in der Corona-Krise“, so KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel. Er rechnet vor: 3850 Stunden lang ist die Telematik-Infrastruktur (TI) je Praxis in den vergangenen 13 Monaten laut Umfrage ausgefallen – nur jeden zweiten Tag habe das System also funktioniert. „So etwas verträgt das Gesundheitswesen nicht.“
Warum hat sich die KBV als Gesellschafterin der Gematik nicht selbst konstruktiver eingebracht? „Es mag von außen so aussehen, als ob wir mehr erreichen hätten können in der Gematik“, so Kriedel. Aber tatsächlich habe man gerade einmal 7,4 Prozent der Stimmen, die Mehrheit von 51 Prozent liege beim Bundesgesundheitsministerium (BMG). „Und in der letzten Legislaturperiode war es eindeutig so, dass die vorgesehenen Termine gehalten werden sollten“, so Kriedel. Noch Ende des Jahres habe es – gegen die Stimme der KBV – einen Beschluss gegeben, dass das E-Rezept zum Jahresbeginn verpflichtend werden sollte.
Laut Kriedel hat sich die KBV massiv eingebracht, was die Gestaltung der Rahmenbedingungen geht. „Bei der Gematik haben wir aber nur einen begrenzten Einfluss“, so Kriedels Fazit. „Für uns stellt sich daher die politische Frage, ob wir noch mitmachen bei der Gematik, wenn wir immer überstimmt werden.“ Er hat die Hoffnung, dass die Umwandlung der Gesellschaft in eine Agentur, wie sie im Koalitionsvertrag angekündigt ist, Gestaltungsspielraum bietet und die Chance für einen Neuanfang ist. „Wir brauchen dringend einen politischen Kurswechsel, der glaubwürdig sein muss.“
Vor allem müssten die Leistungserbringer stärker eingebunden werden. Angesichts des drohenden Crashs mit allen Folgen für die Versorgung der Patient:innen habe man beim E-Rezept den Stecker gezogen, so Hofmeister. Daraufhin seien die anderen Beteiligten eingestiegen, doch erst der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe auf die Warnungen gehört und das Projekt gestoppt.
Noch weiß man auch bei der KBV nicht, wer im BMG jetzt für die Digitalisierung verantwortlich ist. Hofmeister hofft aber, dass Lauterbach einen Strategiewechsel einleitet und die Digitalisierung unter den Vorbehalt stellt, dass sie auch einen konkreten Nutzen hat. Im Koalitionsvertrag sei davon die Rede, dass der Fokus auf der Lösung von Versorgungsproblemen liegen soll. Dies ist laut KBV der richtige Ansatz. Dass gleichzeitig auch mehr Tempo angekündigt werde, müsse nachrangig sein: „Mangelndes Tempo war nicht das Problem. Aber man kann Fristen nicht halten, wenn die Lösung nicht steht.“
Hofmeister verweist auf eine Petition der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in Bayern, die das Quorum von 50.000 Unterzeichnern erfüllt habe und am 14. Februar im Petitionsausschuss des Bundestags behandelt werde. „Kernforderung ist, dass Massenanwendungen wie TI, elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) oder E-Rezept erst nach einer 12-monatigen Testphase eingeführt werden können und dass dauerhaft ein Ersatzverfahren existieren muss, um die Versorgung zu sichern.“
Man brauche keine Digitalisierung, nur weil sie „schick“ oder machbar sei, so Hofmeister. Durch Nutzen überzeugen statt Durchboxen, müsse die Maxime sein. Als Beispiel nannte er die Videosprechstunde, die sich seit Beginn der Corona-Krise etabliert habe. Dagegen habe eine Umfrage unter 4500 Ärzt:innen ergeben, dass das Ausstellen einer eAU statt weniger Sekunden bis zu vier Minuten in Anspruch nehme. „Das ist absolut ernüchternd. So kann Digitalisierung für einen Massenprozess doch keine Lösung sein.“
Wann also kann das E-Rezept nun kommen? „Ohne ausreichendes Testen klappt es nicht“, sagt Kriedel. Er gehe davon aus, dass alle Beteiligten mit großem Einsatz daran arbeiteten, am Ende müsse man aber den gesamten Versorgungspfad durchspielen, was bislang nicht passiert sei. „Ich gehe davon aus, dass das mindestens bis Mitte des Jahres dauern wird.“
Hofmeister verweist auf die belustigend oder eher erschreckend geringe Anzahl an E-Rezepten, die bislang getestet wurden. „Jede App wird vor der Einführung als Beta-Version getestet. Mir ist absolut schleierhaft, warum das nicht bei so elementaren Abläufen im Gesundheitswesen passiert.
Zentrale Anforderung für die KBV sei daher, dass der Aufwand durch das E-Rezept sinke – und nicht weiter ansteige. „Heute dauert das Ausstellen eines Rezepts zwei bis drei Sekunden, das ist ein Massenprozess, der problemlos läuft“, so Hofmeister. „Für das E-Rezept müssen dagegen 40 bis 50 Sekunden veranschlagt werden. Jeder Controller würde bei so etwas aufschreien.“ Laut Hofmeister profitieren vom E-Rezept vielleicht die Kassen oder die Apotheken, keinesfalls aber die Praxen oder die Patient:innen.
Laut KBV-Umfrage sind 85 Prozent aller Praxen an die TI angeschlossen. Im Vergleich zum Vorjahr berichten aber immer mehr Niedergelassene von der Fehleranfälligkeit: 50 Prozent der befragten Praxen haben mindestens wöchentlich mit Fehlern bei der TI-Nutzung zu kämpfen; unter den Hausärzten sind es sogar zwei Drittel. Der Anteil derer mit täglichen Störungen hat sich mit 18 Prozent verdoppelt.
Entsprechend schätzen fast zwei Drittel der 2800 Teilnehmer:innen dies als starkes Hemmnis für die Digitalisierung im Gesundheitswesen ein. Auch ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis digitaler Anwendungen hat für 65 Prozent starke negative Auswirkungen. Etwas mehr als die Hälfte der Praxen bemängelt zudem die fehlende Nutzerfreundlichkeit – im Vergleich zu 2020 ganze 14 Prozent mehr.
Das Beispiel der Videosprechstunde zeige demgegenüber, dass Digitalisierung mit klarem Nutzen auch schnell Anwendung im Versorgungsalltag finden könne, so Hofmeister: Der Anteil der Praxen liegt mittlerweile bei 39 Prozent, nach 6 Prozent vor Beginn der Corona-Pandemie. „Die Videosprechstunde hat während der Pandemie geholfen, Kontakte zu reduzieren und trotzdem die Versorgung aufrechtzuerhalten. Entsprechend stark wurde sie auch angeboten und nachgefragt. Sie ist aber nicht der berühmte Gamechanger, der alles ändert. Dazu ist ihr Einsatzgebiet zu begrenzt. Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt ist und bleibt der Goldstandard.“
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