Die Linke kritisiert die Digitalisierungspolitik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) als Konjunkturprogramm für kapitalgetriebene Konzerne – Unternehmensinteressen rangierten vor einer solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung. Das E-Rezept könne dabei zum Gamechanger für die ausländischen Versender werden, warnt Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler im Interview mit APOTHEKE ADHOC. Statt einer mit öffentlichen Mitteln bezahlten „Spielwiese von IT-Unternehmen“ fordert sie in staatlichem Auftrag entwickelte Open-Source-Anwendungen in der Telematikinfrastruktur (TI).
ADHOC: Wann rechnen Sie mit der verpflichtenden Einführung des E-Rezepts?
VOGLER: Das E-Rezept ist wie andere Maßnahmen der Digitalisierung im Gesundheitswesen übereilt und ohne Konzept eingeführt worden. Die Komplexität, aber auch die nötige Vorbereitung in Praxen und Apotheken wurden unterschätzt. So wurde jahrelanger Stillstand durch Aktionismus ersetzt. Beides hat der Einführung eines sinnvollen E-Rezepts geschadet und wird weiter die Akzeptanz und das Vertrauen von Patient:innen, Apotheker:innen und Ärzt:innen in eine nutzbringende und gemeinwohlorientierte Digitalisierung reduzieren. Die Einführung, also der Zeitpunkt, an dem alle Apotheken und Praxen technisch und personell in der Lage sind, es zu verwenden, steht momentan in den Sternen. Daran helfen auch die nächsten rechtlichen Fristen nichts.
ADHOC: Welche Auswirkungen wird die Einführung des E-Rezepts auf die wohnortnahe Arzneimittelversorgung durch Vor-Ort-Apotheken haben?
VOGLER: Das E-Rezept droht zum Gamechanger für ausländische Versandapotheken zu werden. Mit der Einführung des E-Rezepts hat endgültig Goldgräberstimmung Einzug gehalten bei Großunternehmen, die die deutschen Regelungen gegen die Kommerzialisierung des Apothekenwesens umgehen. Nicht nur Kampagnen von DocMorris, sondern auch der Einstieg der Parfümeriekette Douglas ins Geschäft der Versandapotheken machen die Brisanz der E-Rezept-Einführung deutlich. Wir befürchten, dass die Rosinenpickerei der Versandapotheken mit dem E-Rezept weiter zunimmt und sich Patient:innen mit starkem Beratungsbedarf bei Präsenzapotheken konzentrieren. Sollte sich das absehbar weiter verstärken, muss eine Berücksichtigung bei der Apothekenvergütung oben auf die To-Do-Liste.
ADHOC: Sehen Sie eine Bevorzugung dieser kapitalgetriebenen Versandapotheken-Konzerne auch durch die Ausgestaltung der E-Rezept-Infrastruktur?
VOGLER: Bekanntlich hat Die Linke den Versandhandel mit Arzneimitteln immer kritisch gesehen. Es ist nach unserer Meinung zu wenig getan worden, um die Bevorzugung von Versandapotheken und das Makeln von Rezepten wirklich zu verhindern. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2016 lässt letztlich eine echte Gleichbehandlung nur durch ein Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln übrig. Die im VOASG gefundene Regelung sehen wir als faulen Kompromiss an und kämpfen weiter für eine patientenorientierte Arzneimittelversorgung, in der große Kapitalgesellschaften so weit wie möglich außen vor bleiben. Wir freuen uns, dass immerhin unsere Forderungen für ein Verbot des Rezept-Makelns letzten Endes aufgenommen wurden. Doch ein Verbot ist nur so gut wie die Möglichkeiten zu seiner Überprüfung und Durchsetzung. Hier stellen sich uns noch erhebliche Fragen. Wir haben deshalb gefordert, dass auch mit technologischen Mitteln verhindert wird, dass mit dem Vermitteln von Rezepten Geschäfte gemacht werden.
ADHOC: Aber was müsste aus Ihrer Sicht getan werden, um gleiche Wettbewerbsverhältnisse zwischen Vor-Ort- und Versandapotheken herzustellen?
VOGLER: Wie beschrieben, sehen wir nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nur das Verbot des Rx-Versandhandels als saubere Lösung an. Die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln ist für uns eine wichtige Aufgabe der Daseinsvorsorge. Wir sehen nicht, dass das mit dem Geschäftsmodell des Versandhandels mit einer guten, patientennahen und sicheren Versorgung zu gewährleisten ist. Noch weniger sehen wir renditegetriebene Aktiengesellschaften als so regulierbar an, dass letztlich die Qualität der Versorgung im Mittelpunkt steht.
ADHOC: Und jenseits eines Rx-Versandverbots?
VOGLER: Mindestens müsste sichergestellt sein, dass Versandapotheken die Vorschriften der Guten Vertriebspraxis (Good Distribution Practice of medicinal products for human use, GDP) der EU-Kommission einhalten. Hier bedarf es wirksamer Kontrollen und spürbarer Sanktionen. Davon sind wir nach unserer Kenntnis weit entfernt. Nach wie vor lässt die apothekenrechtliche Überwachung grenznaher Versandapotheken zu wünschen übrig. Beides ist tatsächlich in der Praxis nur schwer zu gewährleisten und für uns weitere Argumente gegen das Geschäftsmodell. Die Sicherheit der Versorgung sollte hier vor dem Warenfreiheitsdogma der EU gehen und liegt für uns klar auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik und damit in der Regelungshoheit der einzelnen Mitgliedsstaaten.
ADHOC: Wie bewerten Sie das Vorgehen und die Informationspolitik der Gematik?
VOGLER: Die Gematik ist dominiert vom Bundesgesundheitsministerium und jede Kritik muss zugleich an die Bundesregierung gerichtet werden. Es war zwar richtig, die Pattsituation der gemeinsamen Selbstverwaltung in der Gematik aufzulösen. Zugleich hielt aber der oben bereits beschriebene unkritische Aktionismus Einzug. Wir sehen viele Potentiale der Digitalisierung im Gesundheitssystem. Wir sehen aber auch Risiken und Nebenwirkungen, die für jede Anwendung von der TI im Großen bis zur Gesundheits-App im Kleinen eine gute Abwägung erfordert. Den Spahnschen Ansatz, „Viel hilft viel“ konnten wir keinesfalls mittragen. Die gescheiterte Einführung des E-Rezepts ist wie viele andere eine Folge dieser Strategie. Wir fordern, dass der Nutzen für die Patient:innen, die Praxen und Apotheken sowie für die Solidargemeinschaft als Ganzes transparent bewertet wird. Der Datenschutz und die Datensouveränität der Dateninhaber:innen sind dabei als nicht als Hemmschuh, sondern immanenter Bestandteil zu sehen, so wie jede Patientendokumentation selbstverständlicher Teil der Behandlung ist.
ADHOC: Wie steht es denn aus Ihrer Sicht um Datenschutz und -souveränität beim E-Rezept?
VOGLER: Der Umgang mit sensiblen Gesundheits- und Sozialdaten erfordert nach der EU-Datenschutzgrundverordnung zurecht ein besonders hohes Schutzniveau. Die sicherste Technologie nutzt nichts, wenn die Menschen, die sie bedienen, nicht ausreichend geschult und sensibilisiert sind. Zentral ist daher, alle Akteur:innen mitzunehmen, sie an der Ausgestaltung zu beteiligen und nicht zuletzt die Anwendungen unter Praxisbedingungen gut zu testen. Vieles ist hier versäumt worden und so reiht sich Misserfolg an Misserfolg und weder für Patient:innen, noch für Praxen oder Apotheken ist der Nutzen der Digitalisierung bislang ausreichend spürbar.
ADHOC: Die Organisationen der Leistungserbringer haben ihre Standpunkte in der Vergangenheit oft nicht berücksichtigt gesehen und wurden im Gesellschafterrat der Gematik mit der 51-Prozent-Mehrheit des BMG überstimmt. Glauben Sie, es bräuchte eine Strukturreform der Gematik?
VOGLER: Die Strukturreform der Gematik hat mit der Mehrheitsübernahme durch das Bundesgesundheitsministerium bereits stattgefunden. Sie hat den fast 15 Jahre währenden Stillstand zwar beendet, aber durch die beschriebenen Hauruck-Aktionen des BMG ersetzt. Beides halten wir aus den genannten Gründen für falsch. Letztlich scheitert die Strategie des BMG auch daran, dass die Marktgläubigkeit eines Herrn Spahn mit dem Anspruch an gemeinwohlorientierter Gestaltung des digitalen Gesundheitswesens nicht zusammenzubringen ist. Der neue gewünschte Weg der Gematik sieht vor, dass die mit öffentlichen Mitteln ausgestaltete TI nur mehr Plattform und Spielwiese von IT-Unternehmen wird. Jedes Bewusstsein, dass Gesundheitsversorgung, erst recht im Rahmen eines solidarisch finanzierten Versicherungssystems, zuvorderst Daseinsvorsorge ist, ist hier anscheinend verloren gegangen.
ADHOC: Welches Gegenmodell hätten Sie denn dazu?
VOGLER: Wir fordern in staatlichem Auftrag entwickelte Open-Source-Anwendungen in der TI, die gut überprüft sind und allen Versicherten zur Verfügung stehen. Für einzelne Gesundheits-Apps muss es wie bei Arzneimitteln aussagefähige Daten geben, dass es den Patient:innen, die sie verwenden, besser geht als ohne. Wir wollen keine Digitalisierung der technologischen Machbarkeit, sondern eine, die gerade die Vorteile für ältere und multimorbide Menschen in den Fokus nimmt. Wir werden sehr genau beobachten, ob der neue Gesundheitsminister eine grundsätzliche Kurskorrektur vornimmt. Dafür brauchten wir im Rahmen einer neuen Digitalisierungsstrategie sicher auch eine weitere Umstrukturierung der Gematik.
ADHOC: Welche Reformen halten Sie für notwendig, um das anhaltende Apothekensterben in Deutschland aufzuhalten?
VOGLER: Die Entwicklung der Apothekenzahlen ist seit Jahren alarmierend – umso mehr, als es keine guten Daten darüber gibt, wo geschlossene Apotheken die Versorgungssicherheit der Bevölkerung gefährden. Wir fordern daher eine fundierte bundesweite Ermittlung des örtlichen Versorgungsbedarfs, damit Versorgungslücken aufgedeckt und gezielt bekämpft werden können. Seit Langem fordern wir, gezielt Apotheken in strukturschwachen Räumen zu unterstützen.
Das E-Rezept verändert den Apotheken- und Pharmamarkt. Mit dem Abflauen der Corona-Pandemie wird das E-Rezept zur höchsten Priorität für alle Akteur:innen auf dem deutschen Arzneimittelmarkt. Die Zukunftskonferenz VISION.A von APOTHEKE ADHOC setzt deshalb am 30. März 2022 unter dem Titel „E-Rezept: Chance oder Apothekenkiller“ den Fokus auf E-Rezept-Einführung, den Status Quo und die möglichen Folgen. Tickets sind ab sofort hier buchbar. Reduzierte Earlybird-Tickets zum Preis von 390 Euro zzgl. MwSt. sind bis zum 10. März 2022 erhältlich, danach können reguläre Tickets zum Normalpreis von 490 Euro zzgl. MwSt. erworben werden.
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