Mit Doktor.de kommt ein weiterer Anbieter von Videosprechstunden nach Deutschland. Das schwedische Unternehmen sieht Telemedizin aber nur als einen Baustein: Im Rahmen eines hybriden Gesundheitsmodells sollen digitale und physische Behandlungsstrukturen vernetzt werden. Um eigene Versorgungsstrukturen aufzubauen, will das Unternehmen Arztpraxen aufkaufen.
Doktor.de will nach eigenen Angaben die ärztliche Versorgung – auch jenseits beliebter Ballungszentren – sichern: Patient:innen mit Bagatellerkrankungen sollen zukünftig effizient digital behandelt und die wirklich notwendigen Fälle künftig in Partnerpraxen vor Ort versorgt werden. Die Telemedizin wachse rasant, so das Unternehmen. „Allerdings fehlen bisher Konzepte, die neue digitale Angebote sinnvoll in die bestehenden physischen Versorgungsstrukturen der niedergelassenen Ärzteschaft einbinden.“
Dies wolle man ändern. „Ziel ist eine neue Art der hybriden ambulanten Versorgung, die digitale und physische Strukturen eng verzahnt. Diese soll nicht nur neue, flexible Arbeitsstrukturen für Mediziner:innen schaffen, sondern Ärzt:innen in der alltäglichen Arbeit durch Effizienzgewinne helfen. Die patientenzentrierte Versorgung bleibt sichergestellt und die Qualität steigt, weil Ärzt:innen mehr Zeit für ihre Patient:innen haben.“
Konkret ist der Aufbau einer eigenen Praxiskette geplant. Voraussichtlich im Sommer soll es laut einer Sprecherin die ersten eigenen Praxen geben. Derzeit halte man Ausschau nach geeigneten Übernahmeobjekten im Berliner Raum. „Bis Ende des Jahres will Doktor.de 10 bis 20 medizinische Versorgungszentren in Deutschland betreiben.“ Ziel sei es, dass Patient:innen entweder via Videosprechstunde oder bei Symptomen, die nicht digital behandelt oder diagnostiziert werden können, physisch in einer Praxis vorstellig werden können. „Dies soll zukünftig in einer Doktor.de-Praxis aber auch in Partnerpraxen vor Ort möglich sein. Damit soll erstmals in Deutschland die Verzahnung der neuen digitalen und alt-bekannten physischen Behandlungswege der Patient:innen erreicht werden.“
Einstweilen werden Videosprechstunden angeboten. Interessenten müssen die App herunterladen und Angaben wie Versicherungsdaten, Geschlecht und Alter eingeben. Vorgeschaltet ist außerdem eine symptomorientierte Anamnese, welche von der digitalen Schwester „Anna“ durchgeführt wird. Das im Anschluss behandelnde medizinische Personal kann so Gesundheits- und Anamnesedaten direkt einsehen, genauso wie vom Patienten hochgeladene Fotos oder Behandlungsunterlagen. Ärzt:innen können sich somit schon vor der Konsultation ein umfassendes Bild über die angegebenen Beschwerden machen – auch sie nutzen die App und müssen keine Software installieren.
In der Pilotierungsphase ist das Angebot ist für die Ärzt:innen kostenlos. Die telemedizinische Anwendung ist nach den Standards des Datenschutzes und der Informationssicherheit durch TÜV Nord zertifiziert und bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) als zertifizierter Videodienstanbieter gelistet. Die Nutzung ist bei gesetzlich versicherten Patient:innen über den einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) und bei Privatversicherten über die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) abrechenbar.
Im Schnitt warten Patient:innen laut Doktor.de maximal 30 Minuten auf das Videogespräch mit dem Arzt oder der Ärztin. Eine Terminvereinbarung ist nicht notwendig. An 365 Tagen im Jahr von 7 bis 22 Uhr könnten die Nutzer:innen sich beraten lassen. Rezepte, Überweisungen und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind für die Patient:innen im Anschluss an die Behandlung direkt in der App einsehbar.
Dazu heißt es in der App: „Die Ärztin oder der Arzt kann nach eigenem Ermessen Rezepte für die Behandlung ausstellen.“ Mittels Postleitzahlsuche kann der Patient oder die Patientin eine Apotheke auswählen, in der das Medikament abgeholt werden soll. „Unsere Medizinischen Fachangestellten kontaktieren nach der Auswahl die entsprechende Apotheke und senden das Rezept direkt in die Apotheke. Ist das Medikament vorrätig, erhält der Patient oder die Patientin in der Doktor.de-App eine Benachrichtigung.“
Als Privatpatient:in kann man die Rechnung mit dem Rezept bei der Versicherung zur Rückzahlung wie gewohnt einreichen. „Auch bei Kassenpatient:innen wird aktuell noch ein Privatrezept ausgestellt, wofür die Kosten zunächst selbst übernommen werden müssen. Einige Krankenkasse übernehmen die Kosten für Privatrezepte.“ Aktuell befinde man sich – wie auch die Ärzt:innen in allen Arztpraxen – in einer Übergangsphase zur Ausstellung von E-Rezepten. „Sobald dies verfügbar ist, kannst du als gesetzlich Versicherte:r den Service auch bei Doktor.de kostenfrei nutzen.“
Doktor.de ist ein Ableger von Doktor.se. Das 2016 von Martin Lindman gegründete Unternehmen ist nach eigenen Angaben zweitgrößter Anbieter für die digital-physische Gesundheitsversorgung in Europa. Die Deutschlandzentrale sitzt in Berlin, Geschäftsführer sind die Susanne Kreimer, von Hause aus Ärztin und einige Jahre an der Charité beschäftigt, und Dr. Dirk Tietz, Wirtschaftsingenieur und früherer Manager bei TUI und DER Touristik.
„Als Ärztin möchte ich für die so häufig frustrierten Patient:innen eine moderne und effiziente Versorgung mit hoher Qualität und einem außergewöhnlichen Servicelevel schaffen. Die eingestaubten und starren Strukturen sorgen aktuell dafür, dass kranke Menschen zu unzufriedenen Patient:innen werden; sie müssen stundenlang in besetzten (Telefon-) Warteschlangen ausharren, um einen Arzttermin zu ergattern, nur um dann erneut stundenlang im Wartezimmer zu sitzen. Das muss sich ändern“, so Kreimer. „Für meine oft unzufriedenen ärztlichen Kolleg:innen ist es mir wichtig, mit zeitgemäßen Strukturen den Medizinberuf wieder zu modernisieren, ihn wieder attraktiv zu machen und ihnen Zeit für das Wesentliche zu geben: die Patientenversorgung. Damit in Zukunft zufriedene Patienten wieder von motivierten Mediziner:innen versorgt werden.“
Laut Tietz kann die Digitalisierung in der Gesundheitsbranche „noch ein riesiges, ungenutztes Potenzial entfalten“. Ziel sei es, Doktor.de mit seinem hybriden Ansatz als einen der wichtigsten Spieler am deutschen Markt zu etablieren. Aufbauend auf dem digitalen Angebot wolle man eigene ambulante Versorgungsstrukturen etablieren und mit einem weiten Netzwerk von niedergelassenen Ärzt:innen und Partnerpraxen kooperieren, um die Integration der digitalen Medizin mit der physischen Welt weiter voranzutreiben. „Zur Schließung der Versorgungslücke sind moderne und digitale Konzepte dringend notwendig.“
In Schweden ist das Modell bereits erprobt, mehr als eine Million Schweden und Schwedinnen nutzen den digitalen medizinischen Sofort-Service von Doktor.se bereits, was rund 10 Prozent der schwedischen Bevölkerung entspricht. Knapp 200.000 Patient:innen werden in den 16 eigenen ambulanten Versorgungszentren in Schweden behandelt.
Doktor.de wirbt bei den Mediziner:innen offensiv für den Service: Zahlen aus Schweden zeigten, dass die digitalen Tools für das medizinische Personal insgesamt rund zehn Minuten Zeit pro Patient:in einsparen und den bürokratischen Aufwand signifikant senken. Außerdem werde Ärzt:innen in den eigenen Praxisverbünden ein Arbeitsumfeld geboten werden, welches modernes, flexibles und digitales Arbeiten zulasse und damit auch für die nachrückende Generation der Mediziner:innen attraktiv sei.
Gleichzeitig skizziert das Unternehmen ein düsteres Szenario: Der demografische Wandel sorge dafür, dass künftig immer mehr Patient:innen von immer weniger Ärzt:innen beziehungsweise mit immer weniger Arzt-Stunden versorgt werden müssten. Durch die Berentung vieler Hausärzt:innen in den kommenden Jahren, mehr jungen Mediziner:innen in Teilzeit und die demographische Entwicklung sei ein „flächendeckender Versorgungsmangel die Folge – auch in der Großstadt“. Laut Doktor.de ist ein Ärztemangel nicht nur in ländlichen Regionen ein Problem: Unterschiede gebe es auch je nach Stadtteil in Großstädten.
Mithilfe des digital-physischen Ansatzes von Doktor.de würden auch Praxen in Randgebieten von Großstädten wieder attraktiver, denn die Einzugsgebiete vergrößerten sich. „So können Ärzt:innen weiterhin von den sogenannten ‚Verdünner-Patient:innen‘ profitieren.“ Und schließlich biete der digitale Service mehr Terminsicherheit: Aktuell würden rund 40 Prozent der Termine noch am Behandlungstag oder gar nicht abgesagt, was zu hohen Umsatzeinbußen führe. „Durch das digitale Wartezimmer für die Patient:innen entfällt die Terminvereinbarung gänzlich.“
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