Bild-Gipfel: E-Rezept und Vorsorge Alexander Müller, 28.10.2021 11:04 Uhr
Während der Corona-Pandemie hat die „Bild“-Zeitung ein Thema für sich entdeckt, das zuvor nicht unbedingt im Fokus des Blatts stand: die Gesundheitsversorgung. Das soll sich nachhaltig ändern. Beim ersten Bild-Vorsorgegipfel wurde gestern in Berlin vor allem über die Digitalisierung des Gesundheitswesens diskutiert. Noventi hat als Partner der Veranstaltung zudem Apotheker Dr. Björn Schittenhelm mit einem „Faktencheck E-Rezept“ in die Bild gebracht.
Deutschland hinkt im europäischen Vergleich bei der Digitalisierung seines Gesundheitswesens bekanntlich weit hinterher. Deshalb muss es nun einerseits schnell gehen, andererseits benötige die Transformation eben in der Praxis auch ihre Zeit, wie Noventi-Chef Dr. Hermann Sommer in der Panel-Diskussion beim Vorsorgegipfel betonte. Dass vor allem die Arztsysteme in der Entwicklung noch deutlich hinterherhinken, ist Sommer zufolge auch den Prozessen geschuldet: „Da sind zu viele Akteure beteiligt. Wir bekommen bis zuletzt Änderungen, wie das E-Rezept aussehen muss.“
Einen umfassenden Start zum 1. Januar erwartet Sommer daher nicht, eher eine schrittweise Einführung. „Der Weg funktioniert, wir müssen uns nur trauen“, so Sommer. In der Versorgung biete auch diese Variante einen Vorteil, weil die Daten für eine bessere Versorgung genutzt werden könnten. Bis dahin heißt es: Viele Schulungen, viel Überzeugungsarbeit und zu Beginn eben die Option, das E-Rezepts auszudrucken – eine irgendwie typisch deutsche Lösung.
Beim APOTHEKE ADHOC Webinar „Der ultimative E-Rezept Support!“ zeigen Dr. Mathias Schindl, Bereichsvorstand Warenwirtschaft bei Noventi, und Apotheker Jan Reuter heute Abend ab 20 Uhr, wie das E-Rezept im Apothekenalltag funktioniert.
Dass der Nutzung von Gesundheitsdaten häufig der allzu kleinteilige deutsche Datenschutz entgegensteht, kritisierte in der Bild-Runde Dierk Neugebauer von Bristol-Myers Squibb (BMS). Die aktuelle Struktur mit 16 Landesdatenschutzbeauftragten hält er für überkommen. Um die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzubringen, wäre aus seiner Sicht ein Daten-Trustcenter nötig. Die Hersteller hätten gar kein Interesse an personalisierten Daten, benötigten aber strukturiertes anonymisierte Daten, um die Versorgung zu verbessern. Gleichzeitig sei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) künftig unabdingbar, um die gewaltigen Datenmengen sinnvoll zu nutzen.
Professor Dr. Sylvia Thun vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) sieht vor dem KI-Einsatz die große Herausforderung, die Daten glattzuziehen und damit überhaupt auswertbar zu machen. Sie sieht die Politik in der Pflicht: Es dürfe im Gesundheitswesen nur Softwaresysteme zugelassen werden, „die ordentliche Daten herstellen und zur Verfügung stellen – und zwar nach internationalen Standards“. Selbst in der Apple-Watch etwa seien schon die WHO-Standards abgebildet, bei der elektronischen Patientenakte werde das erst jetzt umgesetzt. Thun verwies auf das Fair-Prinzip der Datennutzung (Findable, Accessible, Interoperable, and Re-usable), das beispielsweise in Estland zum Einsatz komme.
Auch Dr. Ariane Schenk, Bereichsleiterin Health & Pharma bei Bitkom, lenkte den Blick auf den europäischen Norden. Die Länder hätten ihre Gesundheitssysteme schon umfassend digitalisiert. Hierzulande seien die Systeme erst in der Pandemie aufgebaut worden, als Beispiel nannte sie die Umsetzung der Impfzertifikate.
Dr. Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientenschutz, mahnte, dass die Digitalisierung am Anfang Zeit benötige. Das Personal müsse geschult, Prozesse neu aufgebaut werden. „Denn bei den ersten Dingen, die nicht funktionieren, sind die Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal frustriert.“ Diese Ressourcen würden nicht mitgedacht. Auch Thun ist überzeugt, dass für die Umstellung viel Geld in die Hand genommen werden muss, „aber Deutschland investiert nicht in die Digitalisierung“, kritisierte Thun. Die ganze neue Technik müsse Smartphone-basiert sein: „Wir können die Faxgeräte, Karten und Konnektoren dann zusammen wegschmeißen.“
Noventi will ePA überholen
Noventi verfolgt mit Gesund.de ohnehin den Plan, eine Standardlösung für den Gesundheitsmarkt zu schaffen: Die Gesundheitskarte soll über die Funktionen der E-Patientenakte hinaus zum Beispiel auch Lifetracking-Daten sammeln und den Nutzer lebenslang begleiten. „Der Patient entscheidet, was er damit macht.“ Aber es sei jetzt an der Zeit, die verschiedenen „Silos“ aufzubrechen und die vielen verfügbaren Daten nutzbar zu machen. Allein Noventi sitze auf Patientendaten von 60 Millionen Versicherten, die aber derzeit nicht umfassend genutzt werden könnten. Diese Quellen gelte es zu erschließen.
Vor der Paneldiskussion hatte Dr. Markus Beier, Vize beim Deutschen Hausärzteverband und Vorsitzender des Bayerischen Landesverbands, ebenfalls Bedenken an der Detailumsetzung geäußert: „Die eAU ist eine Katastrophe, das funktioniert hinten und vorne nicht.“ Aus seiner Sicht hat das deutsche Gesundheitssystem „Nachholbedarf beim Pragmatismus“.
Dabei hat die Pandemie gezeigt, dass es Bedarf an alternativen Versorgungsformen gibt. Laut Beier ist die Patientenzahl in den Praxen im ersten Lockdown um 20 bis 30 Prozent gesunken. Die 17 Prozent weniger Darmkrebs-Operationen seien leider nicht auf einen Rückgang der Erkrankungen zurückzuführen, bei den 11 Prozent weniger Herzinfarkten sei die Analyse schon komplexer. Hier könnte der Rückgang echt sein, da die Menschen im Homeoffice länger schliefen und so ihr Risiko minimierten.
Neugebauer berichtete über verschleppte Diagnosen und verzögerte Therapien während der Pandemie. Das sei im Arzneimittelmarkt sogar bei den rückläufigen Absatzahlen im Bereich chronischer Erkrankungen zu sehen gewesen, so der Pharmamanager. Die Patient:innen hätten sich teilweise aus Angst vor einer Corona-Infektion nicht in die Wartezimmer setzen wollen. „Die großen Verlierer der Pandemie sind Patienten mit chronischen Erkrankungen.“ Weil es sich dabei häufig um ältere Menschen handelt, ist die Digitalisierung aus Neugebauers Sicht auch keine Patentlösung.
Schittenhelm in der Bild
Die Bedeutung der Vorsorge betonte auch Dr. Petra Moroni-Zentgraf von Boehringer Ingelheim mit Blick auf viele Zufallsdiagnosen bei Diabetes Typ 2: Etwa 2 Millionen unentdeckte Diabetiker gibt es nach Schätzungen in Deutschland. „Das Fatale an der Erkrankung ist, dass es sehr lange dauert, bis man es merkt.“ Bei einer verspäteten Diagnose seien dann schon viele kleine Gefäße im gesamten Körper geschädigt.
Eine Lehre aus der Corona-Pandemie sei aber, dass die Menschen mit solchen Themen zu erreichen seien: „Breite Öffentlichkeit schafft Wissen bei Jedermann.“ Das bedeute Chancen für andere Erkrankungen. Gegen die Konsultation von „Dr. Google“ sei im ersten Schritt überhaupt nichts einzuwenden, wenn sie als Einstieg in die Konversation mit dem Hausarzt hilft.
Der Vorsorge-Gipfel von Bild wird in den Publikationen des Axel-Springer-Verlags fortgeführt. Die Partner – Noventi sowie die Hersteller BMS, Boehringer und Pfizer – können hier eigene Ratgeber-Beiträge platzieren. Noventi hat das schon für einen Faktencheck zum E-Rezept genutzt. Apotheker Schittenhelm erklärt, „was es ist, wann es kommt und was es uns nützt“.