Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) verabschiedet sich mit einem Rundumschlag gegen seine Digitalisierungspolitik vom scheidenden Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Auf der letzten KBV-Vertreterversammlung von Spahns Amtszeit zeigte sie bereits Vorfreude auf die neue Regierung.
Dr. Thomas Kriedel ist ein Mann klarer Worte, das hat er seinen Einschätzungen zur Digitalisierungspolitik der noch amtierenden Bundesregierung immer wieder unter Beweis gestellt. Wer denkt, dass er angesichts von Spahns baldigen Abgang sentimental wird, hat sich aber getäuscht. Vielmehr kritisiert Kriedel, der als KBV-Vorstand für das Thema Digitalisierung verantwortlich ist, deutlich Spahns Amtsführung auf den letzten Metern. „Er tritt die Motivationsbremse noch weiter durch und wirft in den letzten Wochen seiner Amtszeit den Ärzten und Psychotherapeuten das vor, was er selbst verursacht hat: Ihnen sei die Digitalisierung pauschal ‚zu anstrengend, zu schnell und zu teuer‘.“
Zu anstrengend sei sie, weil sie trotz pandemiebedingter Belastungen unbeirrt durchgedrückt werde, weil sie noch nicht funktioniere, Versorgungsrealitäten außer Acht lasse und weil sie so schlecht gemacht sei, dass sie viel Zeit und Nerven koste. „Ja, die Digitalisierung ist für die Praxen auch zu schnell. Weil die Technik noch nicht so weit ist, um im Praxisalltag zu bestehen. Und ebenfalls ja: Die Digitalisierung ist zu teuer. Weil den Ärzten und Psychotherapeuten Sanktionen drohen für Dinge, die sie selbst nicht steuern können“, kritisierte Kriedel.
Auch beim leidigen Geld werde es den Ärzten unnötig schwer gemacht. Das politisch vorgegebene Finanzierungssystem zwischen Finanzierungsvereinbarung und teils monopolistischer Preisgestaltung zum Nachteil der Praxen drehe sich im Kreis. „Wir stellen eine zunehmende Diskrepanz zwischen den Beträgen fest, die durch die Erstattungspauschalen gedeckt sind, und den Preisen, die die Industrie tatsächlich in Rechnung stellt“, so Kriedel. Die Höhe der Unterfinanzierung schwanke je nach Hersteller und Konfiguration der jeweiligen IT-Ausstattung. „Wir müssen vermutlich von etwa 9000 Euro für fünf Jahre ausgehen. Der Markt hat sich eben nicht wie versprochen selbst reguliert. Er hat vielmehr die gesetzliche Nachfrage-Garantie genutzt“, so Kriedel.
Der KBV-Vorstand fordert deshalb eine neue, ausreichende Finanzierungsvereinbarung. Denn die Nachfrage werde im kommenden Jahr durch ablaufende Konnektoren noch steigen. „Die Kosten für gesetzlich angeordnete Digitalisierungsmaßnahmen müssen komplett gedeckt sein. Wenn wir bis zum Jahresende kein zufriedenstellendes Ergebnis erreichen können, werden wir ins Schiedsamt gehen“, kündigte Kriedel an.
Durch diese Rahmenbedingungen werde es den Ärzten erschwert, die geforderten Leistungen zu erbringen. „Die Praxen wollen versorgen, sie wollen impfen – und sie wollen auch digitalisieren. Aber: Die Grenze des Machbaren ist längst weit überschritten“, so Kriedel. Bereits jetzt müssten die Ärztinnen und Ärzte Technik in ihren Praxen installieren, die heute schon veraltet sei und oft nicht funktioniere. Technische Schwierigkeiten seien auch beim E-Rezept und der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) ein großes Problem.
In der Fokusregion Berlin-Brandenburg hätten es bisher von den angestrebten 1000 echten und abgerechneten E-Rezepten gerade einmal 42 über die Ziellinie geschafft – umgerechnet nicht einmal zwei E-Rezepte pro Testwoche bei einer Anwendung, die ein bis zwei Millionen Mal pro Tag genutzt werden solle. „Bei diesen tatsächlichen Testmengen und Ergebnissen kann doch niemand seriös behaupten, dass das E-Rezept uneingeschränkt funktionieren wird. Und trotzdem halten Gematik und BMG eisern am Starttermin 1. Januar fest.“
Bei der eAU, die ebenfalls zum 1. Januar eingeführt werden soll, sehe es nicht besser aus. „Zu ihren ersten Erfahrungen haben uns 1.569 Praxen berichtet – in unserer Online-Befragung Anfang November. Nur 4 Prozent der befragten Praxen konnten bislang erfolgreich eine eAU an die zuständige Krankenkasse versenden“, erklärte Kriedel. „Was macht die Praxis dann? Hinterhertelefonieren, erklären, Ärger abfangen, ausdrucken, nachsenden.“ Auch angesichts der aktuellen Gemengelage sei der KBV nichts anderes übriggeblieben, als eine Richtlinie zur Anwendung der eAU und des eRezeptes zu erstellen. „Ohne sie würde die Arbeitsfähigkeit der Praxen massiv eingeschränkt werden – für wer weiß wie lange. Trotzdem sollten Praxen die jeweils noch fehlenden Komponenten beschaffen, sobald sie verfügbar sind“, betonte Kriedel.
Der KBV-Vorstand lässt wenig Zweifel aufkommen, dass er in den geschäftsführenden Minister keine Hoffnung mehr setzt – und vielmehr nach vorn blickt auf die Zusammenarbeit mit der künftigen Bundesregierung. Er biete ihr einen konstruktiven und offenen Dialog an. „Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Ampelkoalition künftig die Digitalisierung an der Versorgung ausrichten will. Um sie in diesem Sinne gemeinsam, pragmatisch und vorwärtsgerichtet zu gestalten, stehen wir bereit: mit unserer Erfahrung und auch mit den bisher gemachten Erfahrungen mit der Telematikinfrastruktur 1.0“, betonte Kriedel. Im Interesse der Patientinnen und Patienten müsse die Digitalisierung von morgen gemeinsam und gemeinschaftlich für alle gestaltet werden und nicht auseinanderdividiert für einzelne Gruppierungen.
Erst am Mittwoch hatte sich die KBV als Teil einer Koalition der Spitzenverbände der Ärzte, Apotheker, Zahnärzte und Krankenhäuser in der Gematik-Gsellschafterversammlung mit einer Erklärung zu Wort gemeldet, in der sie dringend an den Gesetzgeber appellieren, die verpflichtende Einführung des E-Rezepts am 1. Januar zugunsten einer längeren Erprobung des Systems zurückzustellen. Dabei erheben sie teils schwere Vorwürfe gegen die Gematik und das Bundesgesundheitsministerium (BMG): Die Gematik rede Probleme bei der E-Rezept-Erprobung schön, während das BMG fachliche Einwände der Leistungserbringer in der Gesellschafterversammlung mit seiner 51-Prozent-Mehrheit übergehe.
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