Der Bundesgesundheitsminister rät dazu, doch einige Fachleute winken ab. Brauchen gesunde Erwachsene derzeit einen zweiten Corona-Booster? Manche Experten halten das sogar für kontraproduktiv. Umso wichtiger ist es, die Argumente beider Seiten zu kennen.
Wer derzeit über eine zweite Booster-Dosis der Corona-Impfung nachdenkt, kann schnell den Durchblick verlieren: Die Ratschläge aus Politik, Behörden und von der Ständigen Impfkommission (Stiko) unterscheiden sich. Ja was denn nun?
Die für Impfempfehlungen in Deutschland zuständige Stiko hält eine zweite Auffrischimpfung bisher nur für Teile der Bevölkerung für sinnvoll: etwa für Menschen ab 70 Jahren, Patienten mit unterdrücktem Immunsystem, Pflegeheimbewohner und Personal medizinischer Einrichtungen. Weitere Fachleute stärkten der Stiko in den vergangenen Monaten bei dieser Frage den Rücken. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hingegen drängt immer wieder auf mehr Viertimpfungen und brachte diese zuletzt für alle gesunden Erwachsenen ins Spiel. Dann sind da noch zwei EU-Behörden: ECDC und EMA riefen die Mitgliedsstaaten auf, zweite Booster schon ab 60 Jahren anzubieten. Stiko-Chef Thomas Mertens hatte daraufhin angekündigt, das Gremium werde sich "relativ bald" zu einer möglichen Erweiterung der bestehenden Empfehlung äußern.
Wolle man den Sommer ohne Risiko einer Erkrankung genießen, würde er die zweite Auffrischimpfung – „in Absprache natürlich mit dem Hausarzt“ - auch Jüngeren empfehlen, sagte Lauterbach kürzlich dem Spiegel. Mit der zweiten Booster-Impfung habe man "eine ganz andere Sicherheit". Er argumentiert mit einem für ein paar Monate deutlich verringertem Infektionsrisiko und deutlich geringerem Long-Covid-Risiko.
Der Virologe Mertens sagte der "Welt am Sonntag", er kenne keine Daten, die den Ratschlag von Lauterbach rechtfertigten. „Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto viel hilft viel auszusprechen“. Die EU-Behörden ECDC und EMA hielten fest, dass es derzeit keine klaren epidemiologischen Beweise gebe, die die Gabe zweiter Booster bei immungesunden Menschen unter 60 Jahren stützen – es sei denn, Patienten hätten gesundheitliche Schwachstellen.
Aus Sicht mehrerer Immunologen reichen für gesunde Erwachsene unter 60 die bisher von der Stiko empfohlenen drei Corona-Impfungen, um ein stabiles immunologisches Gedächtnis aufzubauen. Es biete in der Regel zumindest Schutz vor schwerer Erkrankung, Krankenhaus und Tod. Absoluten, langanhaltenden Schutz vor Infektion bringe jedoch auch Dosis vier für diese Gruppe nicht. Wer zum Beispiel vor dem Urlaub keine Ansteckung mehr riskieren wolle, solle sich etwa durch Maske, Abstand und Kontaktreduktion schützen, rät Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Auch Epidemiologe Hajo Zeeb geht von einem allenfalls geringen Vorteil der zweiten Booster-Impfung für unter 60-Jährige aus, insbesondere wenn Menschen auch noch zwischenzeitlich erkrankt waren.
Der ist keineswegs nebensächlich. Schließlich wird für den Herbst nicht nur wieder eine Zunahme des Infektionsgeschehens erwartet - sondern auch Vakzine, die an Omikron angepasst sind. Es dürfte also nochmal eine größere Impfkampagne anstehen. Allerdings ist momentan ungewiss, mit welchen Mutationen das Virus bis dahin aufwartet und für wen dann erneute Impfempfehlungen ausgesprochen werden. Was man aber schon sagen kann: Impfabstände von mehreren Monaten haben sich laut Stiko-Mitglied Christian Bogdan (Uniklinikum Erlangen) als vorteilhaft erwiesen für die Stärke der ausgelösten Immunantwort und für die daraus resultierende Schutzdauer. "Besonders wichtig ist, dass eine Booster-Impfung - also die dritte Impfung - in einem deutlichen Abstand zur zweiten Impfung stattfindet", im Idealfall nicht früher als sechs Monate danach. Dies gelte auch für einen möglichen zweiten Booster. Dieser Abstand gewährleiste eine Steigerung der Immunantwort. Impfe man jedoch in eine laufende Immunantwort hinein, sei der Effekt stark abgeschwächt.
Stiko-Mitglied Bogdan sagt, dass es zur Frage des möglichen Schadens von zusätzlichen, klinisch nicht angezeigten Impfungen bisher für die Covid-Impfstoffe keine umfassenden immunologischen Untersuchungen gebe. Manche Experten verweisen zwar darauf, dass etwa von wiederholten Impfungen etwa gegen Pocken oder Influenza keine negativen Effekte bekannt seien - ebenso wenig bei den Einzelfällen, in denen sich Menschen etliche Male gegen Covid-19 impfen ließen.
Auch wenn es unbefriedigend ist: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man diese Frage nicht pauschal beantworten. Es hängt auch davon ab, wie gut das Immunsystem des Einzelnen auf die ersten drei Impfungen reagiert hat. Der Immunologe Andreas Thiel von der Berliner Charité sagt, für "manche wenige" Menschen unter 60 könnte die vierte Impfung essenziell sein - allerdings könne man die nicht einfach erkennen. Für die meisten in dieser Altersgruppe sei eine vierte Dosis dagegen nicht wirklich essenziell. "Jeder muss diese Frage für sich selbst beantworten." Allerdings kann der eigene Hausarzt bei der Entscheidung helfen. Gesetzlich zuständig für Impfempfehlungen ist die Stiko, auch viele Ärzte richten sich nach ihren Ratschlägen. Allerdings dürfen Mediziner auch ohne Stiko-Empfehlung einen zweiten Booster spritzen.
Abgesehen von der Frage nach mehr Viertimpfungen: Schon gemessen an den bisherigen Stiko-Empfehlungen klaffen einige Impflücken. Das Robert Koch-Institut gab in einem Bericht vom Juli an, dass noch etwa 1,3 Millionen Menschen ab 60 Jahren und rund 7,9 Millionen Erwachsene unter 60 ihren Impfschutz mit mindestens einer Impfung auffrischen müssten. Noch gar keine Impfung erhalten hätten rund 1,9 Millionen Menschen ab 60 und rund 7,3 Millionen Erwachsene unter 60 Jahre. Der Hamburger Intensivmediziner Stefan Kluge berichtete auf Twitter, dass leider immer wieder Risiko-Patienten mit unvollständiger Corona-Impfserie aufgenommen würden: Jüngst etwa eine mit Sars-CoV-2 Infizierte 90-Jährige, die nur einmal geimpft worden sei. "Diese Impflücken sollten jetzt geschlossen werden", appellierte er.
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