Die Hoffnung auf Herdenimmunität ist fast so alt wie die Corona-Pandemie. Unter anderem ansteckendere Virusvarianten wie Delta lassen dahinter aber Fragezeichen entstehen.
Mit dem Einsetzen von Herdenimmunität endet die Pandemie – so oder so ähnlich dürften die Hoffnungen in den Köpfen vieler Menschen aussehen. Zunehmend machen Experten aber deutlich: Ganz so einfach ist es nicht. Manche bezweifeln, dass Herdenimmunität beim Coronavirus überhaupt erreichbar ist.
Der Begriff hat mehrere Bedeutungen. In der Corona-Debatte in Deutschland ist in der Regel gemeint, dass ausreichend viele Menschen nach Impfung oder durchgemachter Infektion immun geworden sind, um die Ausbreitung des Erregers stark abzubremsen. Die Vorstellung ist, dass das Virus dann weniger zu den noch anfälligen Menschen gelangt. Von einem solchen Schutz durch Gemeinschaft würden etwa Menschen profitieren, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Dass das Virus aber je ausgerottet werden kann, gilt inzwischen als äußerst unwahrscheinlich. Dem Schweizer Online-Magazin „Republik“ sagte der Charité-Virologe Professor Dr. Christian Drosten Anfang Juni: „Das war von Anfang an ein Missverständnis, wenn man das so aufgefasst hat, dass Herdenimmunität bedeutet: 70 Prozent werden immun – egal jetzt, ob durch Impfung oder Infektion – und die restlichen 30 Prozent werden ab dann keinen Kontakt mehr mit dem Virus haben.“
Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort. Wie hoch die Rate sein muss, unterscheidet sich auch je nach Krankheit, bei den hochansteckenden Masern etwa gelten 95 Prozent als Schwellenwert. Bei Corona bezifferten Experten den Anteil seit dem Frühjahr 2020 zunächst auf etwa zwei Drittel der Bevölkerung. Zugrunde lag die Annahme, dass ein Infizierter im Schnitt drei Menschen ansteckt, wenn keine Maßnahmen in Kraft sind und niemand immun ist.
Doch dann kamen ansteckendere Virusvarianten: Infizierte mit der hierzulande noch vorherrschenden Variante Alpha stecken im Schnitt mehr Menschen an als Infizierte mit Vorgängervarianten. Daher spricht etwa der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, mittlerweile von einem Ziel von über 80 Prozent Geimpften und Genesenen, um weitgehend auf Maßnahmen und Regeln verzichten zu können und die Zahl der Ansteckungen pro Infiziertem (R-Wert) dennoch unter 1 zu halten.
Mit der befürchteten Ausbreitung der offenbar noch ansteckenderen, in Indien entdeckten Delta-Variante dürfte sich das Bild wahrscheinlich erneut ändern: Der Immunologe Professor Dr. Carsten Watzl geht dann von einer Schwelle von wohl rund 85 Prozent aus – schwer erreichbar, solange es für Kinder unter 12 Jahren keinen zugelassenen Impfstoff und für Minderjährige keine allgemeine Impfempfehlung gebe. „Es kann sein, dass Herdenimmunität nur für einzelne Einrichtungen wie Pflegeheime erreicht werden kann, aber nicht für das Gros der Bevölkerung.“
„Auch dann wird es noch Infektionen geben, auch dann wird es Ausbrüche geben, aber es ist davon auszugehen, dass bei einer Immunität von weit über 80 Prozent schwere Verläufe und Todesfälle zum großen Teil verhindert werden“, erklärte eine RKI-Sprecherin. Unter anderem Professor Dr. Lothar Wieler mahnte: Wer sich gegen eine Impfung entscheide, der werde sich früher oder später anstecken.
Mit dem großen Schrecken und schwer zu kontrollierender Ausbreitung im Sinne von Wellen und Lockdown-Maßnahmen dürfte es bei einer hohen Impfquote künftig laut Experten aber vorbei sein. Die Übergänge sind allerdings fließend: Wie aus einem WHO-Papier hervorgeht, wird bereits ab einer Impfquote von 50 Prozent damit gerechnet, dass bis zu 40 Prozent der Ansteckungen sowie 60 bis 70 Prozent der Krankenhaus- und Todesfälle reduziert werden können.
Die Schwellen-Berechnungen sind eher theoretischer Natur und dienen der groben Orientierung. Der Begriff kommt aus der Tiermedizin, dahinter stehen Überlegungen zum Schutz von Tierbeständen. Menschen leben jedoch nicht in abgeschlossenen Gruppen – ganz im Gegenteil, sie begegnen sich, sind international mobil.
Immune Menschen sind auch nicht völlig gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt. Das heißt, das Virus kann in verbliebenen ungeschützten Bereichen durchaus weiter für Ausbrüche sorgen. Hinzu kommt: Immunität bei Sars-CoV-2 ist nichts Lebenslanges. Der Schutz lässt mit der Zeit nach, sowohl bei Genesenen als auch bei Geimpften. Über die Dauer lässt sich wegen der Neuheit des Virus und der Impfstoffe noch nichts Sicheres sagen.
Ohnehin schützt keine Impfung zu 100 Prozent. Wie das RKI betonte, bleibt auch bei Geimpften ein Restrisiko, dass sie sich infizieren und andere anstecken können. Hinzu kommen Patientengruppen, bei denen Impfungen weniger gut wirken, etwa bei Immungeschwächten. Und es gibt Bedenken vieler Experten, dass über den Sommer Impfmüdigkeit bei Menschen einsetzt, die eigentlich immunisiert werden könnten.
Bisher sind keine Varianten bekannt, die die vorhandenen Impfstoffe nutzlos machen – beobachtet wird aber eine Abschwächung des Schutzes. An Auffrischungsimpfungen, die auch Varianten besser abdecken, wird schon gearbeitet. Ein Katz- und Maus-Spiel mit immer neuen, stark veränderten Varianten wird derzeit eher nicht erwartet: Bisher scheinen sich international oft dieselben Veränderungen auszubilden.
„Also eine Mutante, die auf einmal wieder eine schwere Krankheit macht bei der Mehrheit der Geimpften, das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Drosten im „Republik“-Interview. Dennoch bleibt das Impfen wichtig: „Je höher die Impfquote ist, desto langsamer zirkuliert das Virus – und desto weniger Mutationen kann es bilden“, sagte die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Proffessorin Dr. Christine Falk, der Zeitung „Die Welt“.
Nein, danach sieht es bisher nicht aus. Auch wenn Virologe Drosten in der Öffentlichkeit oft als Mahner wahrgenommen wird: Er betont schon lange, dass das Virus sich auf lange Sicht wohl wie die altbekannten Erkältungs-Coronaviren verhalten werde. In den kommenden zwei bis vier Jahren seien aber noch Übergangszustände zu erwarten – das Virus werde Impflücken nutzen, machte er kürzlich deutlich.
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