Sieben Sinusvenenthrombosen sind der Grund für den aktuellen Impfstopp mit dem AstraZeneca-Impfstoff. Weitere Überprüfungen sollen Aufschluss über das weitere Vorgehen geben. Bei vielen Menschen stößt die Entscheidung auf Unverständnis. Professor Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, gibt eine aktuelle Einschätzung der Lage aus medizinischer Sicht.
Thrombosen sind allgemein bekannt, die Sinusvenenthrombosen stellen jedoch eine Besonderheit dar und sind daher als besonders gefährlich zu betrachten. Aufgrund einer Anhäufung wurde nun die Impfung mit der Vakzine von AstraZeneca gestoppt, bis geprüft wurde, ob ein kausaler Zusammenhang besteht oder nicht. „Sinusvenenthrombosen treten etwa einmal pro 100.000 Einwohner und Jahr auf, das heißt die jährliche Inzidenz liegt 1 auf 100.000“, erklärt Berlit.
Besonders häufig sehe man solche Fälle in der neurologischen Klinik: Frauen seien dabei häufiger betroffen als Männer – auch Hormone würden wahrscheinlich eine Rolle spielen, so der Experte. „In der späten Schwangerschaft, im Wochenbett und bei Frauen, die die Antibabypille einnehmen, sehen wir die Sinusvenenthrombosen am häufigsten.“ Um mehr zu den Fällen nach der Impfung in Deutschland sagen zu können, müssten jedoch mehr Details bekanntgegeben werden: „Handelt es sich um Frauen oder Männer? Sind die Betroffenen alt oder jung? Haben sie Vorerkrankungen? Ohne genauere Informationen ist das nicht zu interpretieren.“
Die Sinusvenenthrombosen werden allerdings erneut unterschieden: „Es gibt auch septische Sinusvenenthrombosen, also ein Auftreten im Zusammenhang mit Infektionen, allerdings häufiger bei bakteriellen Infektionen als bei viralen Infektionen.“ Allerdings gebe es Daten, die zeigten, dass bei Covid19-Erkrankungen gehäuft Schlaganfälle auftreten könnten. Unter diesen Schlaganfällen – die insgesamt selten sind – kämen auch Sinusvenenthrombosen vor. „Sinusventhrombosen sind also auch als Komplikation der Covid-19-Erkrankung beschrieben“, erklärt Berlit.
Die Ursache für die Thrombosen ist bislang nicht eindeutig geklärt. „Soweit man das bislang sagen kann, ist es so, dass es im Rahmen der Covid-19-Erkrankung zu einer massiven Hochregulation des Immunsystems kommt – dem sogenannten Zytokinsturm. Und im Rahmen dessen kann eine erhöhte Gerinnungsneigung des Blutes und damit eine erhöhte Thromboseneigung auftreten. Und so kommt es zu Thrombosen nicht nur in den peripheren Venen und in den Lungen, sondern selten auch in den Hirnvenen.”
Komme es zu einem Mangel an Blutplättchen, führe das eher zu Blutungen – allerdings könne eine deutlich erhöhte Thromboseneigung auch zu einerm Plättchenverbrauch führen. „Die venösen Thrombosen im Gehirn entstehen vermutlich vor Ort. Eine lokale Entzündung am Endothel – also der Gefäßwand – kann eine Thrombosebildung begünstigen. Bei der Covid-19-assozierten Sinusvenenthrombose ist es wahrscheinlich so, dass die allgemein erhöhte Thromboseneigung im Rahmen der Infektion ursächlich ist.“
Die Entstehung der Endotheliitis ist ebenfalls nicht abschließend erforscht: „Es gibt neuropathologische Befunde von Covid-19-Patienten, die verstorben sind. Dort hat man neben Thromben in den kleinen Gefäßen auch Virus-Partikel in der Gefäßwand nachgewiesen. Auf der anderen Seite gibt es auch Befunde, dass man durchaus Virus-Partikel nachweisen kann in der Gefäßwand, ohne dass dort eine Entzündung oder lokale Thrombosen vorliegen.“ Oft bestehe eine Diskrepanz zwischen dem Virusnachweis in bestimmten Geweben und dem Ausmaß der Entzündungsreaktion. „Also im Moment spricht nach meinem Dafürhalten mehr dafür, dass es als Reaktion auf den viralen Infekt durch Sars-CoV-2 zu einer massiven Entzündungsreaktion mit verstärkter Gerinnungsneigung kommt und dadurch die Thrombosen entstehen.“
„Was man natürlich bei jeder Impfung will, ist, dass das Immunsystem darauf reagiert. Das ist ja das Ziel der Impfung – der Schutz gegen den viralen Infekt. Nebenwirkungen von Impfungen können dadurch auftreten, dass das Immunsystem zu viel oder an nicht gewünschter Stelle reagiert.” Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem Symptom und einer Impfung herzustellen oder zu belegen, sei jedoch immer „ganz, ganz schwierig”. Eine auffällige Häufung von bestimmten Symptomen in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung heiße zunächst einmal nicht, dass wirklich ein Kausalzusammenhang bestehe. „Dasselbe Symptom hätte auch auftreten können ohne die Impfung. Die kausale Verknüpfung ist hier völlig offen. Deswegen wird ja in England und Kanada auch weiterhin geimpft.”
„Im Fall von Großbritannien kann man bei elf Millionen Impfungen und bisher drei gemeldeten Sinusvenenthrombosen ganz sicher sagen, dass dort keine besondere Häufung besteht. Die Frage ist: Ist es in Deutschland eine ungewöhnliche Häufung? Auch hier lässt sich das derzeit nicht sicher beantworten. Die Impfung ist jetzt zunächst gestoppt worden, damit die beobachteten Fälle genauer analysiert werden können. So soll festgestellt werden, ob ein Zusammenhang mit der Impfung besteht oder nicht.”
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