Corona-Impfkampagne

Schnellere Auffrischung wegen Delta-Variante?

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Berlin -

Aller guten Dinge sind drei: Ein halbes Jahr nach dem bundesweiten Start der Corona-Impfkampagne am 27. Dezember geht es meist noch um die erste und zweite Spritze. Die Wissenschaft denkt schon weiter. Hochbetagte und Menschen mit einem geschwächten Immunsystem brauchen nach Meinung vieler Experten bereits in diesem Herbst eine dritte Impfdosis. Für jüngere und gesunde Menschen seien Auffrischungsimpfungen dagegen noch kein Thema.

„Wir müssen die nächste Phase beim Impfen jetzt schon andenken“, sagt Leif Erik Sander, Infektionsimmunologe an der Berliner Charité. „Ich gehe davon aus, dass wir bei älteren Menschen, die zu Beginn dieses Jahres ihre Erst- und Zweitimpfung erhalten haben, eine nachlassende Immunantwort sehen werden.“ Sander hält es für möglich, dass es ohne Auffrischungsimpfung im Winterhalbjahr zum Beispiel in Alten- und Pflegeheimen dadurch zu zusätzlichen Infektionen kommen könnte, „einem gewissen JoJo-Effekt“, ergänzt er.

Bundesweit war die Corona-Impfkampagne am 27. Dezember 2020 in Alten- und Pflegeheimen gestartet. In Sachsen-Anhalt gab es die erste Impfung schon einen Tag früher. Inzwischen ist gut die Hälfte der erwachsenen Bundesbürger einmal gegen Covid-19 geimpft, rund ein Drittel bereits zweimal. Bis zum Herbst und Winter würden sich aber vermutlich sogenannte Immunescape-Varianten durchsetzen, sagt Sander. Das sind Mutanten, gegen die bisherige Impfstoffe mitunter etwas schlechter wirken. Dazu zählt zum Beispiel die Delta-Variante, die zuerst in Indien entdeckt wurde und sich nun auch in Deutschland schnell ausbreitet.

Im Vergleich zur Vorwoche verdoppelte sich ihr Anteil am Infektionsgeschehen nach den jüngsten Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) für die Woche vom 7. bis 13. Juni auf rund 15 Prozent. Die Wissenschaft ist sich einig, dass die besonders infektiöse Variante Delta – wie jetzt bereits in Großbritannien – auch hierzulande bald dominieren könnte.

Für Charité-Wissenschaftler Sander ergibt sich aus allen diesen Fakten eine Notwendigkeit, bestimmten Bevölkerungsgruppen eine Auffrischungsimpfung anzubieten. Ein solcher Booster sollte dann nicht allein Hochbetagten, sondern auch Menschen mit Immunschwächen offeriert werden, etwa zum Zeitpunkt der Grippeschutzimpfung im Oktober.

Vom Prinzip her sieht das Thomas Mertens als Vorsitzender der Ständigen Impfkommission ähnlich. Er formuliert es jedoch vorsichtiger: „Die Daten dazu, wer wann erneut geimpft werden sollte, sind noch etwas unsicher“, sagt er. „Wir erwarten mehr Anhaltspunkte zur Dauer der Immunantwort nach einer Impfung bis zum August.“

Verlässliche Daten gebe es bisher nur für einige Gruppen von Menschen mit erheblicher Immunsuppression. Sie entsteht zum Beispiel, wenn das eigene Immunsystem bewusst durch Medikamente unterdrückt wird – wie nach einer Organtransplantation. „Diese Daten zeigen in der Tat, dass die Immunantwort in Abhängigkeit zur Immunsuppression bei Organtransplantierten viel schlechter sein kann. Sie liegt dann nur noch bei 50 Prozent“, berichtet Mertens. Normal sind nach zwei Impfungen sonst über 90 Prozent. Auch bei Rheuma- und Krebspatienten zeigten sich Defizite bei der Immunantwort.

„Bei einem solchen Mangel an Immunschutz wäre relativ kurzfristig eine Nachimpfung zu empfehlen“, sagt auch Mertens. „Dafür müssen wir aber erst ganz genau die immunsupprimierten Gruppen mit dem höchsten Risiko definieren.“ Es wäre ein Prinzip wie bei den Priorisierungen zum Impfstart.

Aber bitte alles mit Bedacht. „Bei durchgemachten Infektionen wissen wir, dass der Immunschutz bei ansonsten gesunden Menschen länger als sechs Monate hält. Die Erkrankung und auch die Impfstoffe sind aber noch so neu, dass es Zeit braucht, um Daten für Geimpfte zu erheben“, sagt Mertens. „Ich frage mich allerdings, warum Daten zur Immunantwort in Alten- und Pflegeheimen nicht von Anfang an großflächig und regelmäßig erhoben wurden“, kritisiert Patientenschützer Eugen Brysch. Ihm seien dazu nur Mini-Studien bekannt.

Große generelle Einschränkungen beim Thema Booster macht auch Charité-Forscher Sander. „Ich glaube nicht, dass wir uns alle zum Winter hin ein drittes Mal impfen lassen müssen“, betont er. Die Impfstoffe seien sehr gut wirksam. Sie bauten auch ein Immungedächtnis auf, das zumindest beim Großteil der Bevölkerung nicht so schnell nachlassen werde. „Ich fände es unter diesen Voraussetzungen auch ethisch problematisch, wenn wir in Deutschland für alle an eine dritte Impfung denken würden – und ein Großteil der Welt ist noch nicht einmal das erste Mal geimpft.“

Auch andere Forscher beschäftigen sich mit dem Thema Auffrischungsimpfung. „Im Herbst/Winter wird sich Delta auch bei uns durchsetzen. Dann werden sich die infizieren, die keinen oder einen zu schwachen Schutz haben“, twitterte jüngst der Dortmunder Immunologe Carsten Watzl. „Aber auch ältere Personen mit hohem Risiko für schwere Verläufe könnten bei Delta ein Problem bekommen, wenn die Impfung bei ihnen nicht so gut gewirkt hat. Daher werden solche Personen vor dem Herbst eine dritte Impfung benötigen.“

Eine Masernimpfung halte ein Leben lang, der Tetanus-Schutz nur in etwa zehn Jahre, berichtet Charité-Forscher Sander. „Für Corona wissen wir das schlichtweg noch nicht, wo da jetzt die Grenze liegt.“ Langfristige Daten fehlten noch, sagt auch er. Doch bereits im kurzfristigeren Verlauf sehe man, dass älteren Menschen mit einem dementsprechend älteren Immunsystem und auch jüngere Menschen mit einem geschwächten auf die Erstimpfung gar nicht ausreichend reagierten. Auch die Immunantwort nach der zweiten Impfung bleibe niedriger als bei jüngeren und gesunden Menschen. „Auch wenn wir bei den Älteren dann immer von einem relativ hohen Niveau reden.“

Für Booster müsste man das Rad wahrscheinlich gar nicht neu erfinden. Sander geht davon aus, dass eine dritte Impfung mit bekannten und hier zugelassenen Impfstoffen einen sehr guten Auffrischungseffekt haben werde. „Es kann sein, dass bestimmte Kombinationen dann noch einmal einen Vorteil bringen.“ Vermutlich werde man die Vektorimpfstoffe wie den von AstraZeneca nach zweimaliger Impfung nicht noch ein drittes Mal geben. „Denn es baut sich auch eine sogenannte Vektor-Immunität auf, die die Impfwirkung abschwächt. Ich glaube, dass wir hier dann mit einem mRNA-Impfstoff wie Biontech/Pfizer oder Moderna kommen sollten.“ Und auch umgekehrt. Die besten Kombinationen müssten aber noch in Studien gezeigt werden. Booster-Impfungen kämen häufig auch mit rund der Hälfte der Dosis aus.

Drohende JoJo-Effekte in Alten- und Pflegeheimen haben für Sander aber nicht nur mit dem Lebensalter der Bewohner zu tun. Es gehe auch um ihr Umfeld: Sind Pflegepersonal und alle Besucher wirklich komplett durchgeimpft? „Denn das sind meist die Wege, auf denen das Virus in Alten- und Pflegeeinrichtungen gelangt.“ Wer über 80 ist, noch allein wohnt und nicht internetaffin, ist möglicherweise auch noch gar nicht geimpft. „Aber da schließen jetzt hoffentlich die Hausärzte die Impflücken“, sagt Sander.

Für Brysch würden massenhafte Auffrischungsimpfungen in Heimen nur mit mobilen Impfteams wie am Anfang des Jahres funktionieren. „Heimleiter und Hausärzte wären damit überfordert“, urteilt er. Dazu hält der Patientenschützer den Begriff „Kokon-Immunität“, die durch eine durchgeimpfte Umgebung von Heimbewohnern bestehen soll, für ein Märchen. „Nach meiner Kenntnis sind die Impfraten unter pflegenden Angehörigen weitaus höher als die beim Pflegepersonal in Heimen.“

Für eine Update-Impfung ist nach Sanders Kenntnis eine Zulassung bei der europäischen Arzneimittelbehörde EMA notwendig. Dafür reichten aber kleinere Studien, um die bestehende Zulassung für einen Impfstoff zu erweitern. Verteilungskämpfe befürchtet er nicht. „Ich denke, es wird über die Erst- und Zweitimpfungen hinaus im Herbst Impfstoff-Reserven geben. Die Auffrischung würde dann parallel zum Lückenschließen bei den Erst- und Zweitimpfungen laufen.“

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