Sars-CoV-2: Wo bleibt die Herdenimmunität? Cynthia Möthrath, 10.07.2020 11:25 Uhr
In der Corona-Hochsaison wurde häufig vermittelt, dass erst eine Herdenimmunität zur Eindämmung der Pandemie führen könnte. Daher sind die Erwartungen an Antikörper-Studien groß. Bisher lassen hohe Antikörperzahlen jedoch auf sich warten: Eine Untersuchung in Spanien zeigt erneut niedrige Immunitätsraten bei der Bevölkerung.
Für eine Herdenimmunität ist je nach Erreger eine Durchseuchung von 70 bis 90 Prozent der Bevölkerung notwendig. Erst wenn diese erreicht ist, hat der Erreger kaum noch „Nahrung“ – er kann sich nicht mehr weiterverbreiten, das öffentliche Leben könnte wieder weitestgehend „normal“ stattfinden. Für viele stellt die Herdenimmunität daher eine große Hoffnung dar. Doch verschiedene Untersuchungen lassen diese Hoffnung schwinden: Denn der Anteil der Bevölkerung mit Antikörpern gegen Sars-CoV-2 ist viel geringer als angenommen.
Nur fünf Prozent der Spanier haben Antikörper
Eine kürzlich veröffentlichte Studie im Fachjournal „The Lancet“ untermauert erneut, dass eine Herdenimmunität gegen das Coronavirus nach derzeitigen Daten allem Anschein nach nicht zu erreichen ist. Die Untersuchung wurde von Epidemiologen und Mikrobiologen des Nationalen Instituts für Epidemiologie am Madrider Gesundheitsinstitut Carlos III, des spanischen Gesundheitsministeriums und der Harvard-Universität in Boston durchgeführt. Es handelt sich bei der vorgestellten Untersuchung um die bisher größte Antikörper-Studie in Europa. Unter die Lupe genommen wurde dabei Spanien, eines der Länder in Europa, welches am schlimmsten betroffen war. Betrachtet man die hohen Infektionszahlen, so könnte man vermuten, dass ein Großteil der Bevölkerung Antikörper gegen das Virus entwickelt hat.
Mehr als 60.000 Menschen wurden im Zuge der Untersuchung getestet. Das ernüchternde Ergebnis: Im Durchschnitt haben nur fünf Prozent der spanischen Bevölkerung Antikörper gegen Sars-CoV-2 ausgebildet. Die Verteilung der Antikörper ist ganz unterschiedlich: Während an den Küstenregionen und auf den Inseln extrem niedrige Anteile von nur drei Prozent ermittelt wurden, konnten in Regionen mit größeren Ausbrüchen bis zu 15 Prozent der Bevölkerung eine Immunität aufweisen – doch auch damit ist man von einer Herdenimmunität noch weit entfernt.
„Obwohl das Coronavirus Spanien besonders hart getroffen hat, sind die Prävelenzschätzungen niedrig und eindeutig nicht ausreichend, dass eine Herdenimmunität erreicht wird", erklären die Autoren der Studie. Daher seien für die künftige Bekämpfung der Pandemie Maßnahmen wie Abstandhalten, sowie das Identifizieren und Isolieren neuer Fälle unerlässlich. Kürzlich mussten in Spanien aufgrund eines starken Anstiegs der Erkrankungszahlen erneut zwei Provinzen abgeriegelt werden. Zuvor waren die Schutzmaßnahmen landesweit gelockert worden.
Untersuchungen liefern ernüchternde Zahlen
Danny Altman, Sprecher der Britischen Gesellschaft für Immunologie bezeichnete die spanische Studie gegenüber BBC als „ernüchternd". Die daraus gewonnenen Erkenntnisse würden die Annahme bestätigen, dass es die Welt mit einer tödlichen Infektion zu tun habe, die nur eine kurzzeitige Immunität nach sich ziehe. Die Herausforderung bestehe nun darin, die besten Impfstrategien zu identifizieren, mit denen diese Probleme überwunden und somit eine anhaltende und optimale Immunantwort stimuliert werden könne.
Auch andere Studien zeigten bereits ähnliche Ergebnisse: Im österreichischen Ischgl, einem der Corona-Hotspots, war ein großer Teil der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert – dennoch gibt es auch hier keine Herdenimmunität. Rund 80 Prozent der Ischgler Bevölkerung nahmen an der Studie teil. 1473 Probanden waren zwischen 21. und 27. April untersucht worden. Nach Angaben der Medizinischen Universität Innsbruck haben nur 42,4 Prozent der in einer umfassenden Studie untersuchten Bürger Antikörper auf das Coronavirus entwickelt.
Auffällig sei, dass von den positiv auf Antikörper getesteten Personen zuvor nur 15 Prozent die Diagnose erhalten hatten, infiziert zu sein, erklärte die Direktorin des Instituts für Virologie, Dorothee von Laer. „85 Prozent derjenigen, die die Infektion durchgemacht haben, haben das unbemerkt durchgemacht.“ Trotz des hohen Antikörper-Werts sei auch in Ischgl keine Herden-Immunität erreicht. Entscheidend für den Rückgang der Fälle seien die Quarantäne und die soziale Distanz gewesen, hieß es.