Gesundheitswesen in der Coronakrise

Sachverständigenrat: Mehr Digitalisierung hätte Leben gerettet

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Berlin -

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) kritisiert die deutsche Rückständigkeit bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens: Wäre sie bereits weiter fortgeschritten, hätte man bessere Möglichkeiten im Kampf gegen die derzeitige Corona-Pandemie und könnte mehr Menschenleben retten, so das Expertengremium in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Stattdessen sei das deutsche Gesundheitssystem „total verzettelt“.

Ein „Weckruf“ solle es sein, so der Rat, der die Entwicklung im Gesundheitswesen beobachtet und im Zweijahresrhythmus Gutachten dazu erstellt. Denn die Coronakrise wirke wie ein Brennglas und zeige Probleme auf, die bereits vor der Krise bestanden hätten. Dazu gehörten neben der teilweise zu geringen Ausstattung mit Pflegekräften in Krankenhäusern und Pflegeheimen sowie unklaren Zuständigkeiten und Strategien bei der gesundheitlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern vor allem das nicht immer gut aufeinander abgestimmte Nebeneinander von Bund- und Länderkompetenzen im Gesundheitswesen. Aber auch unzureichend wissenschaftlich begründete Maßnahmen oder die nicht ausreichende Vorhaltung von persönlicher Schutzausrüstung wie Mund-Nasen-Masken und Desinfektionsmitteln gehöre dazu.

Deshalb müssten nach dem Ende der Pandemie, spätestens aber im nächsten Jahr, „bestehende Schwachstellen systematisch analysiert und konsequent Lehren daraus gezogen werden“, so der Sachverständigenrat. Um derart akute Mängel solle es ihm aber gar nicht gehen – sondern vielmehr um die langfristige Perspektive. Und für die zeige die aktuelle Pandemie: „Kurz- wie langfristig kommt der Digitalisierung der Prozesse im deutschen Gesundheitswesen eine Schlüsselrolle für den optimalen Schutz von Leben und Gesundheit zu.“

Dabei gebe es bereits die richtigen Ideen: Die derzeitigen Ansätze, das Mobilitätsniveau der Bevölkerung mit anonymisierten Handydaten zu ermitteln und mithilfe einer freiwilligen App Kontaktpersonen vor einer potenziellen Infektion zu warnen, würden bereits in diese Richtung weisen. Ähnliches gelte für die Meldewege von Infektionsnachweisen und Genesungen an Gesundheitsämter und an das RKI. Sie könnten durch Digitalisierung schneller und weniger fehleranfällig gestaltet werden. „Bedauerlicherweise sind in dem gesamten Bereich im letzten Jahrzehnt viele Chancen nicht genutzt worden“, so der Sachverständigenrat.

Doch in Deutschland fehle es dem Gesundheitswesen an der notwendigen digitalen Infrastruktur: Bei der Digitalisierung hinke das deutsche Gesundheitswesen der internationalen Entwicklung weit hinterher, wie verschiedene Rankings zeigten. „Die Bewältigung der aktuellen Krise wird dadurch unnötig erschwert.“ Zwar schienen „das hohe Verantwortungsbewusstsein in Politik und Gesellschaft sowie die unermüdliche Einsatzbereitschaft aller in der Gesundheitsversorgung und Forschung“ das Land auf einen guten Weg gebracht zu haben, „aber durch die Defizite in der Digitalisierung fahren wir darauf wie mit angezogener Handbremse“.

Als Beispiel nennt der Rat unter dem Vorsitzenden Professor Dr. Ferdinand M. Gerlach die elektronische Patientenakte (ePa). Gäbe es nicht erst 2021, sondern schon heute eine sektorenübergreifende ePa, könnte demnach eine Identifikation und Information von Menschen mit erhöhtem Risiko wesentlich zielgenauer und schneller erfolgen. „Auch könnten wir schneller die Frage beantworten, welche Menschen mit welchen Vorerkrankungen möglicherweise besonders gefährdet sind. Zusammengeführte Behandlungsdaten […] könnten dann wichtige Hinweise auf bislang unbekannte Zusammenhänge ergeben – etwa welche Medikamente wie Schmerzmittel oder Blutdrucksenker den Verlauf positiv oder negativ beeinflussen.“

Auch beim Einsatz von Arzneimitteln außerhalb der Zulassung – derzeit vor allem auf der Suche nach einer effektiven Therapie wichtig – könnte die ePa demnach eine zentrale Rolle spielen, indem ihre Auswertung wertvolle Hinweise liefert. Stattdessen würde die „ausgeprägte strukturelle Abschottung zwischen Kliniken und Praxen, der ‚Faxstandard‘ in der zwischenärztlichen Kommunikation und die noch überall verbreitete papiergebundene Karteikarte“ darauf hinweisen, dass die aktuelle Krise „auch eine Koordinationskrise in einem verzettelten System ist“. Der Sachverständigenrat stellt sich deshalb hinter den Bundesgesundheitsminister: Die im letzten Jahr gestartete Digitalisierungsoffensive müsse zügig vorangetrieben und im Behandlungsalltag nutzbar werden. Denn: „Auch wenn wir noch keine wirksame Therapie oder gar einen Impfstoff haben: Mit einer strukturiert vernetzten, digital unterstützten gesundheitlichen Versorgung aus einem Guss könnte vielen schneller und besser geholfen werden.“

 

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