Geld? Gutscheine? Berlins Bezirk Neukölln setzt schon seit Monaten auf ganz andere Impfanreize. Gerade in den sozialen Brennpunkten wollen Berater die Menschen im Alltag erreichen – auf dem Markt, im Park oder bei TikTok. Ein Besuch.
Wie viele Menschen sich im Berliner Stadtteil Neukölln wohl impfen lassen werden in der Corona-Pandemie? Maximal 50 bis 60
Prozent, sagt Albert Ngwa. Mehr sei bei der Impfquote wohl nicht drin. Den Eindruck hat er nicht einfach aus der Luft gegriffen. Ngwa gehört zum interkulturellen Aufklärungsteam des Bezirks, fünf Köpfe, 13 Fremdsprachen, er berät alle, die möchten, zu Corona und zum Impfen. „Frauen sind sensibler“, sagt Ngwa. „Die hören zu und stellen vernünftige Fragen.“ Männer sagten eher: «“Weiß ich schon.“
Manchmal ist Neukölln – mit 330.000 Einwohnern eine Großstadt in der Bundeshauptstadt – wie ein Brennglas für soziale Entwicklungen in Deutschland. Der Bezirk steht dabei nicht nur für Schlagwörter wie Rütli-Schule oder einen hohen Migrantenanteil. Neukölln hat auch ein Gesundheitsamt und einen Pandemiestab, die all jenen voraus scheinen, die nun rufen, dass der Impfstoff jetzt zu den Menschen kommen müsse. So weit war Neukölln schon im Frühjahr. Nur zugehört hat kaum jemand.
Im Neuköllner Gesundheitsamt hängen im Zimmer von Amtsarzt Nicolai Savaskan rote Boxhandschuhe am Aktenschrank, ein Roller lehnt an der Wand, manchmal liegt Bordercollie-Mischling Woody unter dem Schreibtisch. Savaskan, Anfang 50, Epidemiologe, ist das Gegenteil des Klischees, das so manche vom kaputtgesparten und verstaubten öffentlichen Gesundheitsdienst im Kopf haben mögen. Er ist umtriebig, eloquent, sachlich, immer erreichbar und im Kopf oft schon zwei bis
drei Schritte voraus. Alles Gold wert in dieser Pandemie.
Savaskan denkt gerade über Pop-Up-Gesundheitskioske nach, die dort stehen könnten, wo viele Menschen freiwillig hingehen – auf dem Wochenmarkt, in Parks, in Schwimmbädern, in Schulen. Ein Vorläufermodell gab es schon: Ein Lkw-Anhänger stand im Frühjahr auf einem Wochenmarkt. Darin saß ein Amtsarzt und bot kostenlose Corona-Tests an, als es sie anderswo noch kaum gab. Das Beratungsteam schwärmte aus und schickte Interessierte dorthin.
Savaskan wollte damals schon ein Impfangebot im Anhänger, um all die zu erreichen, die sich nicht selbst um Termine bemühen. Impflücken aufzutun und zu schließen gehört zu den traditionellen Aufgaben der deutschen Gesundheitsämter. Doch seine oberste Behörde, die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, setzte zu dieser Zeit nur auf Impfzentren, später dann auch auf Arztpraxen. Die Gesundheitsämter, hieß es, hätten mit der Nachverfolgung von Kontakten genug zu tun.
Der Amtsarzt und sein Team waren im März gedanklich schon da, wo manche Bundes- und auch Berliner Politiker gerade erst anzukommen scheinen: Impfmüdigkeit, Impflücken - und was nun? 85 Prozent der Bundesbürger zwischen 12 und 60 Jahren und 90 Prozent der Bevölkerung jenseits der 60 müssen nach der jüngsten Einschätzung des Robert Koch-Instituts vollständig geimpft sein, damit es mit der Pandemie endlich ein Ende haben könnte. Im Moment sind es rund 45 Prozent.
Savaskan glaubt, dass eine Impfquote von 70 Prozent in Neukölln möglich ist. Für ihn gibt es nur 1 bis 2 Prozent hartnäckige
Impfgegner, bei denen nichts zu machen ist. Mit den entscheidenden 10 bis 15 Prozent, die am Ende vielleicht fehlten, könne man reden, sagt er. Nur bitte mit Konzept und auf keinen Fall vom Schreibtisch aus.
Als sich die Senatsgesundheitsverwaltung im Mai für die erste Schwerpunktimpfung in Neuköllner Kiezen mit hohen Inzidenzen auf die Schulter klopfte, sagte Savaskan: „Ein Aufschlag, ja. Aber wir erreichen damit nicht unbedingt die, die wir brauchen.“ Das sind für ihn die Uninformierten, die Desinformierten und auch all jene, die mit Behörden-Informationen und Flyern wenig anfangen können. In den sozialen Brennpunkten Neuköllns, die es allein schon wegen beengter Wohnverhältnisse und Billig-Jobs ohne Homeoffice leicht zu bundesweiten Spitzen-Inzidenzen bringen, müsse es eine Feinjustierung geben. Eine kleinteilige, individuelle und kultursensible Beratung. Und die Spritze schnell on top, für alle, die sie dann wollen.
Doch damit drang er bis Anfang Juli nicht durch die dicken Lehmschichten, die es in Berlin zwischen den Bezirken und der
Senatsverwaltung zu geben scheint. „Wir nehmen das mit“, heißt es dann in den Runden mit den zwölf Berliner Amtsärzten. Für das, was oft folgt, hat Savaskan seine eigene Diagnose. Er nennt es „administrative Obstipation“, zu deutsch: Verstopfung.
In Savaskans Zimmer sitzt auch Ärztin Christine Wagner. Sie ist Ende 30 und bastelt seit mehr als einem Jahr an Podcasts und Videoclips in Sachen Pandemie: „Unterhaltend, menschlich, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Wir sind wie ein Übersetzerbüro.“ Auch für Amtsdeutsch. Wagner hat inzwischen ein fünfköpfiges Team. Ozam Yagbasan ist 24 und schaut, was das Videoportal TikTok zum Thema Pandemie gerade auf Arabisch bietet. „Auf berlin.de, da surft von meinen Freunden kaum
jemand“, sagt er. Sein Kollege Serkan Cetinkaya, türkische Wurzeln, Schauspieler und Comedian, erklärt die Taktik, auch für
Impfaufklärung: „Wir wollen die Leute auf die Schippe nehmen. Aber lieb.“ Humor statt Verboten, das könne Sprachen überwinden und Kulturen – auch bei ernsten Themen.
Der Norden Neuköllns ist zwischen seinen Partymeilen und angesagten Cafés reich an sozial schwachen Gegenden, die nun Planungsräume heißen. Fast jeder zweite Bürger mit ausländischen Wurzeln hat hier statistisch gesehen eine unterdurchschnittliche Bildung. Mehr als jeder Dritte ist von Armut bedroht, gemessen an den
Durchschnittseinkommen. Schon vor der Pandemie haben Forscher ausgerechnet, dass das alles im Schnitt zehn Lebensjahre kosten kann. „In Neukölln, nicht in Afghanistan“, sagt Savaskan dazu. Wobei er lebensnahe Aufklärungs- und Impfangebote nicht allein für Menschen mit Migrationshintergrund für nötig hält. Entscheidend seien Bildungsstatus und Lebensumstände. „Auch Oma Kasupke kann da einfach durchs System flutschen. Und sie hat die Impfung am nötigsten.“
Das Thema Impfen vor Ort ist mit einigen Monaten Verspätung nun auf der großen politischen Bühne Berlins angekommen. Amtsärzte, heißt es nun, sollten auch impfen, ganz bald. Und Anreize müsse es geben. Vielleicht sogar Geld? An die 50 Euro müssten es wohl schon sein für einen Piks, hat die Berliner Humboldt-Universität aus ihren Umfragen geschlossen. Amtsarzt Savaskan hält das für zuviel des Guten. Geld oder Einkaufsgutscheine würden in Neukölln wohl eher Skepsis
auslösen, sagt er. „Die Leute hier sind es nicht gewohnt, von Behörden Geld geschenkt zu bekommen. Sie würden sich fragen: Was will der Staat mir hier verkaufen?“
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