Impfstoffforschung beschleunigen

Menschen weltweit lassen sich freiwillig infizieren

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Berlin -

Aktuell gehen Forscher davon aus, dass es bis zur Markeinführung eines sicheren und wirksamen Impfstoffes gegen Covid-19 noch ungefähr ein Jahr dauern wird – das liege auch daran, dass ein mögliches Präparat im großen Umfang getestet werden muss. In zahlreichen Ländern, darunter auch Kanada, möchte ein Teil der Bevölkerung nun einen anderen Weg gehen: Um die Forschung zu beschleunigen, sind viele Kanadier gewillt, sich einen potentiellen Impfstoff injizieren zu lassen und sich dann absichtlich Sars-CoV-2 auszusetzen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat für solche Vohaben erste Leitfäden veröffentlicht.

Als „Human Challenge Trial“ bezeichnet man die Methode, die aktuell in Kanada diskutiert wird. Einige Bürger möchten die Impfstoffentwicklung durch die Anwendung eines Kandidaten mit darauffolgender Virusexposition beschleunigen. Normalerweise handelt es sich bei der klinischen Prüfung eines Impfstoffes um einen langwierigen Prozess. Der Wirkstoffkandidat wird einem gesunden Menschen injiziert, dann wird für einen Zeitraum bis zu Monaten gewartet, um festzustellen, ob diese Personen krank werden.

Der Ansatz des „Human Challenge Trial“ ist nicht neu – dieses Vorgehen wurde bereits früher zur Entwicklung von Therapien gegen Pocken, Influenza und Malaria eingesetzt. Die WHO erklärt, dass der Ansatz „wesentlich schneller“ sein kann als Standard-Feldversuche. Bei richtiger Konzeption könnten solche Versuche zu besseren Impfstoffen führen. Insbesondere ethisch birgt die gezielte Infektion gesunder Personen mit einem potenziell tödlichen Virus offensichtliche Bedenken. Zu den größten Risiken zählt die Nichtwirksamkeit des Impfstoffes und folglich die daraus resultierenden Krankheitsverläufe inklusive dauerhaft lebensverändernder Nebenwirkungen oder dem Tod.

Beschleunigung als Ziel

In Kanada wollen Tausende von gesunden Freiwilligen dieses Risiko eingehen und diesen riskanteren Ansatz wagen. Sie erhoffen sich dadurch eine schnelle Markteinführung eines wirksamen Impfstoffes, sodass die gesamte Bevölkerung schnellstmöglich durchgeimpft werden kann – nicht nur in Kanada. Die Freiwilligen kommen in der internationalen Kampagne „1 Day Sooner“ zusammen – einer Art Plattform, auf der man sich bei Interesse anmelden kann. Und dieses ist groß: So haben sich weltweit bereits 16.000 Freiwillige aus 102 Ländern registriert. Die Kampagne wurde vom Rechtsanwalt Josh Morrison ins Leben gerufen. Er fühlte sich zu Hause deprimiert und hilflos, als er auf einen Artikel über Versuche mit menschlichen Herausforderungen und ethischen Grenzen stieß.

Der Anwalt dachte, die Idee eines „Human Challenge Trial“ sei eine gute Idee. „Ich möchte auf jeden Fall, dass dies so schnell wie möglich vorbei ist“, sagte Morrison. Teilnehmer der Kampagne „1 Day Sooner“ hätten sich durch ihre Registrierung noch nicht offiziell und verbindlich für einen Test registriert, erklärt er. Mit ihrer Anmeldung würden sie lediglich Interesse an einer möglichen zukünftigen Testversion bekunden. Darüber hinaus werden Kontaktinformationen angegeben. Morrison sieht, wie groß das Interesse an der Kampagne ist, und empfindet die Unterstützung als unglaublich. „Nur um zu sehen, wie andere Menschen dieses Opfer bringen und dieses Risiko eingehen, um zu helfen, ist es einfach unglaublich bewegend. Und es ist ein sehr helles Licht in einem sehr dunklen Moment.“

Kanada hat direkten keine Anträge für „Human-Challenge-Trials“ für Covid-19-Impfstoffe erhalten. Ein Sprecher der Bundesbehörde sagte jedoch, dass solch ein Vorgehen „möglich“ sei, wenn solch eine Studie „sorgfältig kontrolliert wird“. Er fügte hinzu, dass zuvor jedoch ausreichende Informationen zu potentiellen Risiken des Virus vorliegen müssten. „Wenn ein Antrag für eine Human-Challenge-Studie bei Health Canada eingereicht wird, würde ein Teil der Überlegungen, die in die Bewertung einfließen würden, auch internationale Best Practices umfassen.“

Richtlinien der WHO

Weil das Interesse an dieser Art von Studie weltweit wächst, gab die WHO eine Reihe von Richtlinien heraus, falls ein „Human-Challenge-Trials“ gestartet werden sollte. Die Teilnehmer sollten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein und keine gesundheitlichen Probleme haben. Diese demografische Gruppe hat nach Angaben der WHO eine geschätzte Hospitalisierungsrate von rund 1 Prozent und eine tödliche Infektionsrate von 0,03 Prozent. Die WHO riet den Teilnehmern außerdem, eine „niedrige“ Dosis des Virus zu erhalten – genug, um die Krankheit zu verursachen, aber keine schweren Verläufe zu provozieren. Teilnehmer der Studie sollten hospitalisiert und dauerhaft medizinisch überwacht werden.

Experten äußern sich durchaus kritisch zu dem Vorhaben, so auch Jonathan Kimmelman. Er ist Professor für biomedizinische Ethik an der McGill University in Montreal und äußerte sich besorgt über die Anzahl der möglichen Risiken. Forscher lernten aktuell immer noch, wie die Krankheit funktioniere. Auch dass es derzeit keine „Rettungsmedikamente“ gibt, die einem gesunden Freiwilligen im Falle einer ausbrechenden Covid-19-Infektion verabreicht werden könnten, sieht Kimmelmann als gefährlich. Angesichts dieser Faktoren sei unklar, ob der Ansatz so früh in der Pandemie angemessen sei. „Viele Leute sagen, sie könnten den Prozess der Entwicklung eines Impfstoffs beschleunigen. Da wir so neu in der Entwicklung eines Impfstoffs für Covid-19 sind, ist noch nicht hundertprozentig klar, wie sehr wir diese Technik tatsächlich benötigen, um das Tempo der Impfstoffentwicklung voranzutreiben. Es könnte sich als entscheidend herausstellen. Es könnte aber auch nicht beschleunigend sein“, sagte er.

Kein Ersatz für Standardstudien

Er fügte hinzu, dass diese Versuche nicht als Ersatz für Standard-Feldstudien angesehen werden sollten. Diese würden zwar länger dauern, aber in der Regel einen breiteren demografischen Pool untersuchen. „Die Art von Menschen, die wir tatsächlich brauchen, um den Impfstoff zu verwenden, werden oft Menschen sein, die nicht wie gesunde 20-Jährige sind. Es müssen auch Menschen mit geschwächtem Immunsystem und so weiter untersucht werden“, sagte er.

 

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