Die starke Zunahme der Corona-Infektionen ist nach Ansicht des Leiters der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Professor Dr. Stefan Kluge, „absolut besorgniserregend“. Und der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert Koch-Institut (RKI), Professor Dr. Thomas Mertens, geht davon aus, dass eine Impfung der gesamten Bevölkerung gegen das Coronavirus auch bei schneller Entwicklung eines Impfstoffs Ende 2021 noch nicht abgeschlossen sein wird.
Klinikdirektor Kluge sagte mit Blick auf die neuen Kontaktbeschränkungen: „Wir müssen diesen Trend stoppen, die Politik muss handeln.“ Er warnte vor einer Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen. In Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen seien einige Kliniken schon gut mit Covid-19-Patienten belegt, andere Erkrankte würden bereits verdrängt. Eine Reihe von Krankenhaus-Mitarbeitern habe sich infiziert.
Ein Blick auf die derzeit nur langsam steigende Zahl der Todesopfer tauge nicht zur Einschätzung der aktuellen Lage. „Wir müssen auf die Zahl der Intensivpatienten gucken. Dann wissen wir, wohin die Reise geht“, sagte Kluge, der Facharzt für Innere Medizin und Lungenheilkunde ist. Derzeit gehe die Kurve steil nach oben. Es dauere im Schnitt zehn Tage, bis Patienten mit Symptomen auf die Intensivstation verlegt werden müssten. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation bei beatmeten Patienten beträgt nach Angaben von Kluge zwei bis drei Wochen, Todesfälle träten meistens erst im Verlauf auf. Das bedeute, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erst mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen auf die Zahl der Todesfälle auswirke.
Von den Infizierten müssten etwa 5 Prozent im Krankenhaus behandelt werden, 2 Prozent auf der Intensivstation. Über 70-Jährige hätten ein Todesrisiko von über 50 Prozent. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen in Deutschland liegt laut Kluge bei 79 Jahren.
Ärzte und Pflegepersonal hätten seit Beginn der Pandemie viel gelernt. Es gebe neue Testverfahren, eine gute Ausstattung mit Schutzkleidung und Beatmungsgeräten sowie Behandlungserfolge mit dem Cortison-Präparat Dexamethason. „Deshalb sind wir auch prinzipiell gut vorbereitet“, meinte Kluge. Wie die Lage im Dezember und Januar aussehen werde, lasse sich nicht seriös sagen. „Es hängt extrem davon ab, was die Politik entscheidet und wie sich die Menschen jetzt verhalten“, betonte der Leiter der Intensivmedizin am UKE.
Stiko-Chef Mertens geht davon aus, dass eine Impfung der gesamten Bevölkerung gegen das Coronavirus auch bei schneller Entwicklung eines Impfstoffs Ende 2021 noch nicht abgeschlossen sein wird. „Es wird längere Zeit dauern, bis wir durch die Impfung eine spürbare Veränderung des Infektionsgeschehens sehen werden, dass wir sagen können, jetzt kann wieder Ruhe einkehren“, sagte der Virologe den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Wenn man etwa pro Tag 100.000 Menschen impfen würde, brauche man 150 Tage, um 15 Millionen Menschen zu impfen. Dieses Tempo wäre nach Mertens Ansicht bereits eine Herausforderung.
„Der Start der Impfungen darf nicht übereilt passieren: Es kommt nicht darauf an, vier Wochen früher oder später mit dem Impfen anzufangen“, sagte der Virologe. Vor allem Transport und Lagerung, die Einrichtung der regionalen Impfzentren und die bundesweit zeitgleiche Dokumentation der Impfungen müssten gut vorbereitet werden, ebenso die Auswertung der Sicherheitsaspekte und des medizinischen Impferfolgs.
Mertens rechnet zudem damit, dass es angesichts eines zunächst knappen Impfstoffs Konflikte über die gerechte Verteilung geben wird. „Es kann auch sein, dass einzelne, die nicht gleich zum Zuge kommen, dagegen klagen werden.“ Laut Bundesgesundheitsministerium sollen zunächst sogenannte „vulnerable“ Gruppen geimpft werden, also Personen mit hohem Gesundheitsrisiko. Mertens kündigte an, dass die ethischen Rahmenbedingungen für die Impfstoffverteilung Anfang nächster Woche veröffentlicht werden sollen. Die Beratungen der Ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrats und der Leopoldina würden Ende dieser Woche abgeschlossen.
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