Ärzte und Forscher wehren sich gegen Vereinnahmung

KBV-Lockdown-Papier: Gassen im Kreuzfeuer

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Berlin -

Die Positionierung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gegen einen generellen Lockdown zur Verringerung der steigenden Corona-Zahlen zieht Kritik aus der Ärzteschaft auf sich. „Eine pauschale Lockdown-Regelung ist weder zielführend noch umsetzbar“, hatte KBV-Chef Dr. Andreas Gassen vergangene Woche kritisiert. Eine solche Äußerung sei „grundsätzlich nicht zielführend“, wendet nun der Berufsverband der Anästhesisten (BDA) ein – dabei hatte die KBV in ihrem viel beachteten Positionspapier für sich in Anspruch genommen, auch für diesen Verband zu sprechen. Die Anästhesisten sind nicht die ersten, die sich gegen Gassens Vereinnahmung wehren.

Ausgerechnet Ärzte und Wissenschaftler stellen sich gegen den neuen Lockdown, den Bundes- und Länderregierungen ab dem 2. November über das Land verhängt haben – so jedenfalls war der Eindruck, den die gemeinsame Stellungnahme der KBV und der beiden Virologen Professor Dr. Hendrick Streeck und Professor Dr. Jonas Schmidt-Chanasit vergangene Woche hervorrief. Darin fordern sie eine Abkehr von der Eindämmung alleine durch Kontaktpersonennachverfolgung, die Einführung eines bundesweit einheitlichen Ampelsystems, die Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz von Risikogruppen und eine „Gebotskultur“ an erster Stelle in der Risikokommunikation, kurz: Ge- statt Verbote. Schmidt-Chanasit erklärte zur Veröffentlichung des Papiers, die bisherigen Regeln mit Abstand, Hygiene, Masken und Corona-Warn-App seien eigentlich ausreichend, müssten aber konsequent umgesetzt werden.

Insbesondere Gassen hatte sich explizit gegen einen zweiten Lockdown ausgesprochen. Es sei falsch, nur mit düsterer Miene apokalyptische Bedrohungsszenarien aufzuzeichnen. Man könne nicht das ganze Land „Wochen und Monate in eine Art künstliches Koma“ versetzen. Das könne bleibende Schäden für Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verursachen. Statt Veranstaltungen zu verbieten, sollten sie „mit Hygienekonzepten und Teststrategien unter wissenschaftlicher oder gesundheitsamtlicher Begleitung durchgeführt werden, um herauszufinden, ob das Risiko einer Virusübertragung überhaupt in relevantem Umfang besteht“, heißt es dazu im gemeinsamen Papier.

Neben den drei Beteiligten KBV, Streeck und Schmidt-Chanasit führte das Papier 26 Verbände als Unterstützer der darin formulierten Forderungen auf. Doch offensichtlich ist die Front weniger geschlossen als zunächst suggeriert. Als „gemeinsame Position von Wissenschaft und Ärzteschaft“ bewarb die KBV ihr Positionspapier gleich im Titel – und hatte sich schon damit sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Denn unter den 26 als Unterstützer aufgeführten Verbänden finden sich weder die Intensivmediziner – die vorderste Front im Kampf gegen steigende Fallzahlen – noch die Deutsche Gesellschaft für Virologie oder die Epidemiologen. Und selbst unter den Verbänden, die laut Papier Unterstützer des Vorstoßes sind, wächst nun der Widerstand. Sie verwehren sich gegen eine Vereinnahmung durch Gassen.

So meldete sich am Freitag der BDA zu Wort und beklagte, das Positionspapier sorge „für einige Aufregung“ und „Unmut unter den Ärzten“. Obwohl der BDA im KBV-Papier als Unterstützer geführt wird, hat er sich deshalb mit einer eigenen Mitteilung klar von ihm distanziert: Der BDA teile dessen Inhalt nicht und habe im Vorfeld keinerlei Kenntnis von dem Papier erhalten. „Eine solche Stellungnahme zum jetzigen Zeitpunkt erachtet der BDA als grundsätzlich nicht zielführend. Sie trägt nur zu einer weiteren unnötigen Verunsicherung der Bevölkerung bei“, so BDA-Präsident Professor Dr. Götz Geldner. Ganz im Gegenteil gebe es derzeit zu einer deutlichen Einschränkung von Kontakten und damit der Ausbreitungsmöglichkeit der Infektion derzeit keine Alternative. Alle anderen Schritte seien bislang nicht genügend wirksam gewesen. Viel stärker als im Frühjahr gehe es jetzt darum, einen Kollaps der gesamten Intensivmedizin in Deutschland und damit sehr viele Tote zu vermeiden: „Wir können der Lawine, die sich bald lösen könnte, als Gesellschaft und Gesundheitssystem nicht tatenlos zusehen“, so Geldner.

Auch der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Dienstes hatte sich inhaltlich komplett gegen Gassen und die KBV positioniert: Verbandschefin Dr. Ute Teichert forderte am Mittwoch, kurz vor Bekanntgabe des neuen Lockdown, härtere Maßnahmen im Kampf gegen das Virus. Kontaktbeschränkungen finde sie „schade und schwierig“, sagte sie im RBB. „Aber wenn man sich vor Augen hält, was im Moment passiert, führt aus meiner Sicht kein Weg daran vorbei“, so Teichert. „So schwierig das für jeden von uns ist, aber wir haben keine Medikamente, wir haben keinen Impfstoff. Die einzige Möglichkeit, die Virusausbreitung zu verhindern, ist, die Kontakte zu reduzieren.“

Und auch aus der Wissenschaft – ebenfalls schon im Titel des Papiers vereinnahmt – kam prompter und prominenter Widerspruch. Ein Bündnis der renommiertesten deutschen Forschungsinstitutionen gab eine gemeinsame Erklärung heraus: „Coronavirus-Pandemie: Es ist ernst“, so der Titel, unter dem sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Fraunhofer- und die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz- und die Leibniz-Gemeinschaft sowie die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina versammelten. Darin rechnen auf Grundlage statistischer Daten vor, warum es ihrer Ansicht nach derzeit keine Alternative zu einem Lockdown gibt. „Die wissenschaftliche Analyse des exponentiellen Anstiegs der Covid-19-Fallzahlen weist eindeutig darauf hin, dass es gegenwärtig ein Hauptinstrument gibt, um die Kontrolle über die Pandemie zurückzugewinnen: Die Anzahl der Kontakte zwischen Personen ohne adäquate Vorsichtsmaßnahmen muss konsequent reduziert werden.“ Die Wissenschaftler halten anders als die KBV explizit am Instrument der Kontaktnachverfolgung fest. Allerdings seien jetzt schon viele Gesundheitsämter angesichts der steigenden Zahlen mit dieser Aufgabe überfordert. „Um diese Nachverfolgung wieder zu ermöglichen, müssen Kontakte, die potenziell zu einer Infektion führen, systematisch reduziert werden. Nur so werden eine Unterbrechung der Infektionsketten und ein Einhegen der Situation wieder möglich“, so das Papier. „Je früher und konsequenter alle Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden, eingeschränkt werden, desto kürzer können diese Beschränkungen sein.“

 

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