Vor einem halben Jahr wurde die erste Corona-Infektion in Nordrhein-Westfalen nachgewiesen – und eine Gemeinde im tiefen Westen der Republik schlagartig bekannt. Eine Rückkehr dorthin, wo man wie wohl an keinem anderen Ort merkt, was die Pandemie angerichtet hat.
Ist das die Halle? Wilfried Gossen atmet ein und sagt: „Das ist die Halle.“ Seine Worte hallen nach, der Raum ist an diesem Tag komplett leer. Hinten eine Theke, vorne eine Bühne mit roten Vorhängen – Typ gepflegtes Dorfgemeinschaftshaus. Es erschließt sich nicht auf den ersten Blick, warum man sich auf quasi historischem Boden befindet. In einem kleinen Dorf, das mal als „Coronas Ground Zero“ beschrieben wurde. Auch für Gossen, Präsident des Karnevalvereins „Langbröker Dicke Flaa“ erscheint die ganze Sache immer noch unwirklich, wie er sagt: „Dass ausgerechnet hier der erste Hotspot in ganz Deutschland war...“
In der Halle im Ort Langbroich-Harzelt, der zur Gemeinde Gangelt gehört, hatte der Verein im Februar Karneval gefeiert, rund 300 Gäste waren da. Eine gute Woche später, am 25. Februar, wird dann die erste Corona-Infektion in Nordrhein-Westfalen bestätigt. Bis heute ist nicht klar, wo und wie sich der Mann ansteckte. Was aber schnell klar ist: Er hatte mitgefeiert in Langbroich-Harzelt. Und viele andere Gäste der Sitzung werden danach ebenfalls positiv getestet. Der Kreis Heinsberg, in dem Gangelt liegt, wird zum Corona-Hotspot und steht für einen historischen Wendepunkt: Die Pandemie hat endgültig Deutschland erreicht. Am Dienstag liegt das ein halbes Jahr zurück.
Wie ist es den Bewohnern seither ergangen? Die ersten Wochen waren schwierig. „Wir sind überrannt worden“, erzählt Gossen. Fernsehteams zogen durch die Straßen, es herrschte Quarantäne und die Schulen schlossen. Noch wusste man sehr wenig über die Seuche.
„Niemand konnte das Virus einschätzen, man hörte aber schon über diverse WhatsApp-Gruppen, wer ins Krankenhaus gekommen ist, wer infiziert ist“, sagt Stefan Keulen, einer der zwei Sitzungspräsidenten. Alle hätten Angst gehabt, sich angesteckt zu haben – und für nicht wenige traf es zu. Keulen erlebte als einer der ersten, was Homeschooling bedeutet: 18 Wochen lang seien seine Kinder nicht in der Schule oder in der Kita gewesen. Dass es damals ausgerechnet die kleine Sitzung traf, war Zufall. Vorwürfe musste sich niemand machen, denn es wurde ja damals noch überall Karneval gefeiert. Keulen gerät dennoch ein wenig ins Grübeln, wenn man ihn darauf anspricht. „Es war schon da, aber keiner wusste es. Und alle haben ganz normal weitergemacht“, sagt er. „Das ist das, was rückblickend für ein komisches Bauchgefühl sorgt, auch wenn man nichts dafür konnte.“
Ein paar Kilometer weiter sitzt Landrat Stephan Pusch in seinem Büro. „Ich glaube, dass die Heinsberger auch heute noch ein bisschen problembewusster sind für das Thema Coronavirus als Menschen aus Ecken, in denen es nie so schlimm eingeschlagen ist“, sagt er. Vielen sei jemand bekannt, der gestorben ist oder beatmet wurde. Viele hätten Bekannte mit Spätfolgen. „Das ist anders als in Ostfriesland, wo die Leute sagen: Ja, wir hatten auch mal einen mit Corona hier.“
Pusch selbst ist mit seiner anpackenden Art in der Pandemie zum bekanntesten Landrat des Landes aufgestiegen. „Papa Pusch“ – das sind so Titel, die ihm verliehen wurden. Gerade war er im Urlaub, woran er im Februar überhaupt nicht hätte denken können. Mit Sport hat er sich fünf Kilo abtrainiert. Die Ärmel seines Hemdes sind hochgekrempelt, auf dem Schreibtisch stehen zwei leere Kaffeetassen.
„Ich weiß manchmal gar nicht, wo die ganzen Tage und Stunden geblieben sind“, sagt er. Pusch gibt offen zu, sich vor diesem Tag im Februar nicht wirklich mit Corona beschäftigt zu haben. Ein explodiertes Atomkraftwerk, ein großer Stromausfall – das waren Dinge, die man mal als Szenario erprobt hatte. Aber eine Pandemie? Da hätte er wohl gesagt: „Leute, lasst uns etwas Realistisches durchspielen.“ Er hat in kurzer Zeit sehr viel dazu gelernt.
Mit der momentanen politischen Diskussion ist Pusch wenig zufrieden. Aus seiner Sicht wird viel zu viel über steigende Fallzahlen gesprochen und zu wenig darüber, dass sich das glücklicherweise noch nicht auf den Intensivstationen widerspiegele. Er erinnert sich noch gut an die Zeit, als unklar war, ob das Gesundheitssystem Corona standhält. „Ich plädiere dafür, den Leuten einfach zu sagen, wie es ist: Wir müssen noch eine Zeit lang mit dem Mist klarkommen – ob wir es nun ‚zweite Welle‘ nennen oder nicht.“ Das Virus werde bleiben und man habe ein bisschen selbst in der Hand, wie viele Menschen sich infizieren. „Aber es besteht auch kein Anlass für Panik oder Wutausbrüche gegen Leute, die mal ihre Maske vergessen haben.“ Pusch sagt es so: „Das ist wie bei einer Schraube: Nach fest kommt kaputt.“
Dass es Karneval 2020/2021 geben wird, daran glaubt Pusch nicht. Daran glaubt man genauso wenig bei der „Langbröker Dicke Flaa“, auch wenn es noch nicht entschieden wurde. „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier in dieser Halle 40 Leute auf Abstand sitzen und oben läuft Programm“, sagt Sprecher Keulen. Das habe dann mit Karneval im eigentlichen Sinne nichts mehr zu tun. Was den Herzblut-Karnevalisten bleibt, ist vorerst die Erinnerung. „Die Sitzung war spitze“, sagt Präsident Gossen. Wenn man ein Programm mit eigenen Leuten bestücke, dann könne es schon einmal Hänger geben – das sei normal. Aber selbst das sei bei dieser Sitzung nicht so gewesen. „Sie war nicht zu lang und nicht zu kurz – fünf Stunden.“ Auf die Tage und Wochen danach hätte man gern verzichtet.
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