Angesichts zunehmender Infektionszahlen hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zum Coronagipfel geladen: Er traf sich am Samstagabend mit dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen, Abda-Präsident Friedemann Schmidt – und die Bild-Zeitung war auch dabei.
Man habe die Lage vom ersten Tag an sehr ernst genommen, erklärte Spahn. Dennoch habe das Virus Europa jetzt erreicht; erstmals steckten sich mehr Deutsche im In- als im Ausland an. „Die europäische Seuchenbehörde ECDC ist viel zu klein, um Epidemien wie diese vernünftig begleiten zu können“, sagte er der Bild am Sonntag (BamS). Sie benötige einen größeren Etat und mehr Handlungsmöglichkeiten. „Wir brauchen eine Art europäisches Robert-Koch-Institut“, sagte Spahn und forderte, dafür im nächsten EU-Haushalt Geld zur Verfügung zu stellen.
Die Strategie, im Kampf gegen das Virus Zeit zu gewinnen, sei bislang sehr erfolgreich, sagte Schmidt. So habe man den Moment des tatsächlichen Ausbruchs nach hinten schieben und neue Erkenntnisse gewinnen können. „Erste Therapien werden erprobt. Jeder Tag, den wir gewinnen, ist wichtig!“
Schmidt versprach, dass die Engpässe bei Desinfektionsmitteln bald behoben sind: Industriealkohol sei in Deutschland ausreichend vorhanden, außerdem sei nun die Erlaubnis erteilt worden, diesen in den Apotheken zu verarbeiten. „In wenigen Tagen ist Händedesinfektionsmittel wieder in den meisten Apotheken verfügbar. Für private Haushalte sind 100 Milliliter völlig ausreichend.“
Dass es – über die bisherigen Engpässe hinaus – wegen der Corona-Epidemie Notstände bei Arzneimitteln geben könnte, sehe man derzeit nicht, so Schmidt. „Wir werden aber sicherlich im Laufe des Jahres die Folgen der ausgefallenen Lieferungen aus China zu spüren bekommen.“ Daher müssten mittelfristig Maßnahmen getroffen werden, um die Abhängigkeit von Lieferungen aus China zu verringern – auch wenn Medikamente dann teurer würden. „Wir müssen uns grundsätzlich fragen: Wollen wir als Volkswirtschaft derart abhängig von einem einzigen Land sein? Meine Antwort ist: Nein!“, pflichtete Spahn bei.
Im vierseitigen Themenspezial kamen auch die Schließungen von Arztpraxen – vor allem die von spezialisierten Praxen wie Dialysezentren – aufgrund von Corona zur Sprache: „Dass jemand an einer anderen Erkrankung stirbt, weil wir einen Notstand wegen Corona haben, würde ich für ausgeschlossen halten", sagte Gassen. Es werde bei rund 170.000 niedergelassenen Ärzten zwar „mal das eine oder andere Problem geben“. Corona verlaufe aber in vielen Fällen mild. Mit 28.000 Beatmungsplätzen stünden schließlich mehr Plätze zur Verfügung, als es derzeit weltweit schwer erkrankte Coronapatienten gibt. „Das deutsche Gesundheitssystem ist leistungsfähig. Wenn man schon an Corona erkrankt, dann am besten in Deutschland!“
Dennoch müsse auch in Deutschland mit Todesopfern gerechnet werden, erklärte Spahn: Vor allem ältere Menschen, die bereits gebrechlich und krank seien, hätten ein erhöhtes Risiko. In Italien wurden zur Eindämmung des Virus alle Schulen geschlossen. Eine bundesweite Schließung hierzulande hält Gassen jedoch nicht für zielführend und für „puren Aktionismus“. „Vertrauen schaffen wir nicht mit Symbolpolitik, sondern nur mit gezielten Maßnahmen.“ Spahn pflichtete dem bei: „Ich würde eine bundesweite Schließung auch für falsch halten.“ Schließlich könnten viele Mitarbeiter im Gesundheitswesen mit Kindern – wie Krankenschwestern und Pfleger – nicht mehr arbeiten, wenn plötzlich alle Schulen geschlossen seien. „Das würde die Gesundheitsversorgung schwächen, nicht stärken.“
Zudem will Spahn in Deutschland eine Meldepflicht für alle Corona-Tests einführen. „Bislang müssen nur Tests gemeldet werden, bei denen das Coronavirus gefunden wird“, sagte er. „Künftig sollen auch Tests gemeldet werden, bei denen keine Infektion gefunden wird.“ Dies helfe, die Lage besser einzuschätzen. Bislang wurden laut Gassen Tests im mittleren fünfstelligen Bereich durchgeführt. Viele Patienten berichten jedoch derzeit von massiven Problemen und Chaos bei den entsprechenden Hotlines: Zeitweise kämen bis zu 12.000 Anrufe pro Stunde ein, erklärte Gassen. Da könne es schon mal passieren, dass man in der Warteschleife hänge – dieser Umstand sei zwar ärgerlich, aber nicht lebensbedrohlich.
Mittlerweile sind laut Stand des RKI in Deutschland fast 800 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert – und damit mehr als zehn Mal so viele Fälle wie noch eine Woche zuvor. Die weitaus meisten Fälle bundesweit verzeichnet nach RKI-Angaben mit 373 weiterhin Nordrhein-Westfalen vor Baden-Württemberg (170) und Bayern (134). Außer Sachsen-Anhalt sind mittlerweile alle Bundesländer betroffen. Spahn empfiehlt in Abhängigkeit vom Ausmaß der Erkrankungen in der jeweiligen Region, Großveranstaltungen zu meiden. Die generelle Absage von Bundesligaspielen sei zu jetzigem Zeitpunkt jedoch „unverhältnismäßig“. Außerdem komme es auch auf das persönliche Risiko an, ergänzte Schmidt. Das gleiche gelte zudem für die Grippewelle. Wer wegen Alter schlechter mit einer Infektion umgehen könnte, sollte mal eine Veranstaltung auslassen.
Erst am Freitag hatte er die Bürger aufgerufen, Corona-Risikogebiete zu meiden. Bundesbürger sollen von nicht erforderlichen Reisen nach Südtirol absehen. Das Auswärtige Amt erweiterte entsprechende Reisehinweise für Italien, wie ein Sprecher am Freitag bestätigte. Abgeraten wird auch von nicht nötigen Reisen in die Regionen Emilia-Romagna und Lombardei, sowie in die Stadt Vo in der Provinz Padua in der Region Venetien. Das RKI stufte bislang zudem Regionen in China, Südkorea und dem Iran als Risikogebiete ein. Südtirol reagierte mit Unverständnis auf die Einstufung. Nach Angaben einer Sprecherin des Landeshauptmanns Arno Kompatscher hatte Südtirol bis Freitag nur zwei Infektionsfälle registriert. Unterdessen hatte auch der Vatikan einen ersten Coronavirus-Fall vermeldet.
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides sagte, in den kommenden Wochen sei in den EU-Staaten mit einem raschen Anstieg der Fallzahlen zu rechnen. Dies werde zum Test für die Gesundheitssysteme in der EU. Sie appellierte an die Bürger, Hygienemaßnahmen einzuhalten, und dankte dem medizinischen Personal.
Spahn geriet in der EU erheblich unter Druck, weil er am Mittwoch deutsche Exportbeschränkungen für Schutzkleidung bekanntgegeben hatte. EU-Krisenkommissar Janez Lenarcic sagte, Exportbeschränkungen seien zwar im Binnenmarkt in Ausnahmefällen möglich. Es wäre aber uneuropäisch, den eigenen Markt zu schließen. In der EU sei Solidarität gefordert. Spahn konterte, bisher klappe die Verteilung nicht: Die Schutzkleidung komme nur dahin, wo die höchsten Preise gezahlt würden. Exporte aus Deutschland seien nicht verboten, müssten aber einzeln genehmigt werden. Er habe die EU-Kommission aufgefordert, ein Exportverbot für Drittstaaten in Kraft zu setzen, sagte Spahn. „Wir können nationale Maßnahmen herunterfahren, wenn es eine Maßnahme der Europäischen Union gibt.“
APOTHEKE ADHOC Debatte