Dass Aerosole bei der Übertragung von Sars-CoV-2 eine Rolle spielen, ist weitgehend Konsens. Doch die Frage ist: Welche? Die wissenschaftliche Meinung zum Thema ist geteilt. Forscher der Harvard Medical School argumentieren, dass die Aerosol-Übertragung nicht der dominante Infektionsweg sein kann. Andere Wissenschaftler wiederum werfen der WHO vor, das Ansteckungsrisiko durch Aerosole zu vernachlässigen.
Virushaltige Partikel in der Luft, sogenannte Aerosole, spielen bei der Ansteckung mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 eine Rolle – das ist inzwischen gängige Meinung. Doch wie groß diese Rolle ist, dazu gibt es in der Fachwelt unterschiedliche Ansichten. Einig sind sich die Forscher darin, dass vor allem in geschlossenen Räumen die Ansteckungsgefahr am größten ist. Mitte Juli veröffentlichten Forscher um Michael Klompas von der Harvard Medical School eine Analyse, in der sie zu dem Schluss kommen, dass die Virusübertragung mittels Aerosolen nicht der dominante Weg der Verbreitung sein könne. Zum Beleg führen sie einen Vergleich an: Bei anderen Krankheiten wie Masern, von denen man weiß, dass sie über Aerosole verbreitet werden, stecke ein Infizierter viel mehr Personen an als bei Sars-CoV-2. Die sogenannte Reproduktionszahl sei kleiner und eher mit der von üblichen Grippeviren vergleichbar.
Die Forscher mahnen an, auch andere mögliche Übertragungswege wie Schmierinfektionen nicht außer Acht zu lassen. Wenn Aerosole der Hauptübertragungsweg wären, so die Forscher, reichten Regeln wie zwei Meter Abstand oder die Maskenpflicht nicht aus, um Ansteckungen zu vermeiden. Denn anders als dicke Tropfen Schnodder oder Speichel sinken die Mini-Teilchen nicht recht schnell zu Boden und sie durchdringen sogar medizinische Masken.
Der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch, weist aber darauf hin, das gerade die sehr kleinen Teilchen von unter 5 Mikrometern stundenlang in der Luft schweben – und dann eingeatmet werden könnten. Nur in der Nase und in der Lunge befänden sich sogenannte ACE2-Rezeptoren, die es den Viren ermöglichen in menschliche Zellen einzudringen und sich zu vermehren, erläuterte Scheuch in Gemünden (Wohra). „Durch anschließendes Niesen gelangen die Viren wieder in die Luft.“ Er zählt sich zu einer Reihe von Wissenschaftlern, die die Ansteckung über Aerosole sogar für den wichtigsten Infektionsweg halten.
Rund 240 Wissenschaftler hatten Anfang Juli ein Schreiben in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, in dem sie Gesundheitsbehörden wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorwerfen, in ihren Empfehlungen das Ansteckungsrisiko durch Aerosole zu vernachlässigen. Die WHO reagierte erst zurückhaltend, ging wenige Tage später aber in einem Beitrag ausführlicher auf Virusübertragung via Aerosole ein. Auch das in Deutschland zuständige Robert Koch-Institut hat seine Erläuterungen zur Corona-Ansteckungsgefahr inzwischen erweitert und hält unter anderem fest, dass der längere Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine Distanz von mehr als zwei Metern erhöhen könne – vor allem wenn eine infektiöse Person besonders viele Aerosole ausstoße und andere besonders tief einatmen. „Durch die Anreicherung und Verteilung der Aerosole ist unter diesen Bedingungen das Einhalten des Mindestabstandes gegebenenfalls nicht mehr ausreichend.“
Das Singen in geschlossenen Räumen könnte ein Beispiel dafür sein. Mehrere Fälle mit zahlreichen Infizierten in Chören sind schon dokumentiert worden. Auch Scheuch nutzt dieses Beispiel und erklärt, dass ein infizierter Sänger durch das Singen besonders viele Aerosole produziert: Weil er sehr tief einatmet, werde die Produktion in der Lunge erhöht. Und durch die Vibration der Stimmbänder erfolge zusätzlich eine Aerosol-Produktion im oberen Bereich der Atemwege. „Alle anderen Sänger atmen ja auch sehr tief ein und bieten damit den Aerosol-Viren tolle Voraussetzungen ebenfalls tief in die Lunge eindringen zu können. Peng...“, formuliert er es.
Auch eine Studie mehrerer Forschungsinstitute zu den Ursprüngen des ersten Corona-Ausbruchs beim Fleischfabrikanten Tönnies im Mai kommt zu dem Schluss, „dass die Bedingungen des Zerlegebetriebs – also die niedrige Temperatur, eine geringe Frischluftzufuhr und eine konstante Luftumwälzung durch die Klimaanlage in der Halle, zusammen mit anstrengender körperlicher Arbeit – die Aerosolübertragung von Sars-CoV-2-Partikeln über größere Entfernungen hinweg förderten“.
Klompas und seine Kollegen wiederum merken an, dass sich Viren generell auch über Händeschütteln oder Türgriffe verbreiten könnten. „Die potenzielle Fähigkeit von Viren, sich in geschlossenen Umgebungen über mehrere Mechanismen weit und schnell unter eng stehenden Gruppen zu verbreiten, sollte nicht unterschätzt werden.“ Zudem sei es schwierig, im Nachhinein alle potenziellen Interaktionen von Personen zu bestimmen, die vor, während oder unmittelbar nach beispielsweise einer Chorprobe aufgetreten sein können.
Forscher aus der Schweiz kamen nach mathematischen Berechnungen zu dem Ergebnis, dass das geschätzte Infektionsrisiko einer Person mit typischer Viruslast, die normal atmet, gering sei. „Nur wenige Menschen mit sehr hoher Viruslast stellten ein Infektionsrisiko in einer schlecht belüfteten geschlossenen Umgebung dar“.
Mehrere Untersuchungen sind auch dem Schutz durch Masken noch einmal auf den Grund gegangen. Zwar könne es mehrere Gründe für den Rückgang von Infektionen geben und Studien nur zu Masken dürften kaum möglich sein, wie Forscher aus Massachusetts schreiben. Aber dennoch gehen alle davon aus, dass es beim Eindämmen der Pandemie hilft, Mund und Nase zu bedecken - mit Effekt sowohl beim Ein- und Ausatmen. Und selbst in den Ausführungen von Klompas heißt es, medizinische Masken böten wahrscheinlich „einen gewissen Schutz“ gegen Aerosole.
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