Corona-Krise: Glaeske zweifelt staatliche Maßnahmen an Tobias Lau, 07.04.2020 14:20 Uhr
Ein interdisziplinäres Team von Gesundheitsexperten um Professor Dr. Gerd Glaeske zieht das derzeitige Krisenmanagement der Bundes- und Landesregierungen zur Eindämmung der Sars-CoV-2-Pandemie in Zweifel. Glaeske und seine Kollegen widersprechen dabei keinen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Gefahr oder prangern eine vermeintliche Corona-Panik an wie der ehemalige SPD-Gesundheitspolitiker Dr. Wolfgang Wodarg. Sie kritisieren jedoch, dass die ergriffenen Maßnahmen nicht kongruent zu den Erkenntnissen seien, die es über das Virus bisher gibt. Der derzeitige Shutdown könne schwerwiegendere Folgen haben – man müsse deshalb über eine genauer angepasste Prävention nachdenken, auch um erhebliche soziale Verwerfungen zu vermeiden.
„Zu wissen, was man nicht weiß, ist der beste Teil des Wissens“, soll Laotse einst gesagt haben. Gerade könnte es auch der wichtigste Teil sein: Selten sind Politik und Wissenschaft so eng verzahnt gewesen wie im Moment. Allerdings handelt es sich bei der aktuellen Pandemie um kein gut erforschtes Phänomen, sondern eher um das Gegenteil. Im Eiltempo hat das Land auf den Ausbruch der Sars-CoV-2-Pandemie reagiert. Eine fundierte Diskussion, mit welchen Maßnahmen genau man die Seuche bekämpfen kann, war schon aufgrund des Zeitdrucks nicht möglich. Dabei ist sie notwendig. Glaeske und seine fünf Mitstreiter – darunter BKK-Chef Franz Knieps und Professor Dr. Matthias Schrappe – haben sich nun mit einem Thesenpapier hervorgetan, in dem sie konstruktive Kritik an der bisherigen Regierungspolitik üben. Unter anderem seien Entscheidungen auf Basis von Erkenntnissen getroffen worden, deren Unvollständigkeit nicht hinterfragt wurde.
„Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten (gemeldete Infektionen, Letalität) sind nicht hinreichend, die Ausbreitung und das Ausbreitungsmuster der Sars-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben, und können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen“, so eine der zentralen Thesen des Papiers. So würden die gemeldeten Infektionszahlen nur einen geringen Aussagewert besitzen: Epidemiologisch bedeutsam sei vielmehr die hohe Rate asymptomatischer, infektiöser Virusträger, die bis zu 80 Prozent der Infizierten ausmacht. Außerdem gehe bei den 20 Prozent der Infizierten, die Symptome entwickeln, diesen Symptomen eine noch asymptomatische Phase von einem bis zwei Tagen voraus, in der sie ebenfalls bereits infektiös sind. „In beiden Fällen ist die Diagnose der Infektion nur durch Laboruntersuchungen möglich, allerdings werden diese Untersuchungen (Virusnachweis) bei begrenzten Testressourcen nur dann initiiert, wenn anamnestische Angaben einen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko ergeben (z.B. Aufenthalt in Risikogebieten, Kontakt zu Infizierten).“ Als Resultat werde die Zahl der gemeldeten Infizierten in hohem Maße durch die Testverfügbarkeit und die Anwendungshäufigkeit definiert. „Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht erfasst“, schätzen die Autoren.
Das hat weitreichende Konsequenzen. Die Zahlen ließen nämlich deshalb keine Aussagen zur Prävalenz, zur Periodenprävalenz oder gar zur Inzidenz über einen bestimmten Zeitraum zu, da die Gesamtzahl der durchgeführten Tests nur unvollständig bekannt sei und keine systematische Testung bezogen auf eine definierte Population erfolge. Die Autoren fordern deshalb, dass die Bundesregierung populationsbezogene Stichproben in Angriff nehmen soll – eine Nationale Covid-19-Kohorte. „Um die wichtigen Fragen zur Prävalenz und Inzidenz zu klären, bedarf es der Untersuchung einer repräsentativen Stichprobe analog zur Nationalen Kohorte bei der HIV-Infektion in den 80er-Jahren.“
Die Größenordnung müsse dabei mindestens 10.000 Personen umfassen, um hinsichtlich der bekannten Risikofaktoren stratifizieren und Aussagen über die Hochrisikokollektive machen zu können. Eine iterative, zum Beispiel zweiwöchentliche Testung wäre einzubeziehen. Das hätte den Autoren zufolge auch erhebliche psychologische Auswirkungen: „Es darf nicht vergessen werden: Die erschreckenden Zahlen zum Anstieg der Infizierten werden deutlich relativiert, wenn man die Zahl der Patienten beziehungsweise Personen abrechnet, die die Infektion ohne oder mit beherrschbaren Krankheitszeichen überstanden haben.“
Das hätte auch erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Sterblichkeit durch Covid-19 – die spielt nämlich bei der Entscheidung über Maßnahmen eine große Rolle. Die bisherigen Berechnungen halten sie dabei im Wesentlichen für Zahlenmystik. Die Letalität könne als Kennziffer nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind, darunter das Wissen über die Grundgesamtheit der Population. „Es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist“, mahnen Glaeske & Co. Außerdem gebe es noch erhebliche Mängel bei der Zurechenbarkeit von Todesfällen. Bisher seien nämlich nur die beiden Kriterien Tod und Sars-CoV-2-Nachweis definiert – „mit anderen Worten und vielleicht etwas pointiert ausgedrückt: Wir wissen nicht, ob der Patient an Covid-19 verstorben ist oder mit Covid-19“. Abhilfe könne man an diesem Punkt schaffen, indem analog zur Falldefinition charakteristische krankheitsspezifische Kriterien wie das Vorliegen einer interstitiellen Pneumonie als drittes Kriterium einbezogen werden. Sie geben ein Beispiel: Ein Patient erleidet einen Schlaganfall, kommt ins Krankenhaus und bei der Aufnahme wird eine Sars-CoV-2-Infektion festgestellt. Er muss dann natürlich aus Gründen des Infektionsschutzes wie ein Covid-19-Patient behandelt werden. Erliegt er dem Schlaganfall, werde er höchstwahrscheinlich als Covid-19-Todesfall in die Statistik aufgenommen.
Vor allem in Anbetracht dieser nach wie vor unzureichenden Datenlage kritisieren die Autoren, dass sich die Politik auf einzelne Aspekte versteigt, um Maßnahmen zu rechtfertigen. Tatsächlich war in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder die Rede davon, dass die Bundesregierung die Verdopplungszeit der Infektionen als wesentliches Kriterium für die Entscheidung über eine Verschärfung der verhängten Einschränkungen heranzieht. Es sei jedoch unter Berücksichtigung der beschriebenen anlassbezogenen Teststrategie nicht sinnvoll, „von einer sogenannten Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl weitreichende Entscheidungen abhängig zu machen“. Würde man das tun wollen, müsse man sich dabei auf systematisch gewonnene Populationsstichproben oder Longitudinaluntersuchungen beziehen. In der gegenwärtigen Situation seien aber sinnvollere Endpunkte zum Beispiel durch die Indikation zur stationären oder intensivmedizinischen Behandlung gegeben, soweit sie auf eine spezifische Falldefinition bezogen sind.
Erst langsam rücke dabei auch die besondere Rolle ins Blickfeld, die Pflege-, Betreuungs- und Krankenhausinstitutionen für die Verbreitung von Covid-19 spielen. Zwar werde viel über die teils unhaltbaren Zustände in Gesundheitseinrichtungen berichtet, „aber es fehlt die letztlich definitive Aussage, dass es sich bei dieser Pandemie um eine zumindest in Teilen nosokomiale Infektion handelt, bei der den Institutionen des Gesundheits- und Pflegesystems eine zentrale Bedeutung in Ausbreitung und Dynamik zukommt“. Auch hier würden ähnliche Szenarien – von der mittelalterlichen Pest bis zur Ausbreitung von HIV in den 80ern – die Bedeutung der Übertragung im institutionellen Rahmen verdeutlichen. Die Rolle der Betreuungs- und Versorgungsinstitutionen sei deshalb wesentlich, um zielgruppenspezifische Präventionsstrategien zu etablieren.
Und das ist bereits das Zauberwort: Die Autoren um Glaeske fordern, den allgemeinen Shutdown durch spezifischere Maßnahmen zu ersetzen, die der Natur der Pandemie genauer Rechnung tragen. Dies würde demnach nicht nur die Kollateralschäden verringern, sondern auch eine effektivere Seuchenbekämpfung ermöglichen. Auch hier liege der bisherigen Politik nämlich wieder eine zu Unrecht als richtig vermutete Annahme zugrunde, nämlich die gleichmäßige Ausbreitung des Virus. Bisherige Erkenntnisse würden hingegen auf etwas anderes hinweisen: Der Faktor der Emergenz, also das Auftreten von „völlig neuartigen, paradox erscheinenden und nicht vorherzusehenden Ereignissen“, müsse dringend in die Analyse der bisherigen Ereignisse einfließen. Statt einer gleichmäßigen Ausbreitung in der Fläche werde Covid-19 künftig immer wieder in einzelnen Clustern auftreten, die zu „unerwarteten, mitunter katastrophal anmutenden Einzelentwicklungen“ führen – ein Blick nach Heinsberg oder den bayerischen Landkreis Rott am Inn verdeutlicht, was damit gemeint ist. Genau daran müssten die jeweiligen Maßnahmen allerdings angepasst werden.
Bei der Evaluation der Präventionsstrategien dürfe die Politik nicht von einem linearen Wirkungsprinzip ausgehen „und sich der Illusion hingeben, solche komplexen Ereignisse seien in einer einfachen Actio-reactio-Logik positiv zu beeinflussen. Stattdessen lehrt die Komplexitätstheorie, dass eindimensionale Interventionen eher unvorhersehbare paradoxe Konsequenzen zur Folge haben.“ Die Entscheidungsträger müssten demnach auf das Auftreten von emergenten, lokalen Einzelereignissen und auf unerwartete paradoxe Wirkungen vorbereitet werden. Man müsse sie „vor voreiligem Optimismus aber auch Pessimismus warnen“, so die Autoren. „Sars-CoV-2/Covid-19 wird in seiner Entwicklung eine hochgradig lokale und sprunghafte Charakteristik annehmen, mancherorts zu schweren Problemen führen, aber andere Orte weitgehend in Ruhe lassen. Die Kunst der Implementierung von Präventionsmaßnahmen wird darin bestehen, hier angepasste Lösungen zu implementieren.“
Wirksame Präventionsstrategien setzen demnach nur selten auf eindimensionale Interventionen, sondern seien aus mehreren Teilstrategien zusammengesetzt, die auf unterschiedlichen Ebenen angreifen – hier insbesondere allgemeine Interventionen, die sich an alle exponierten Personen richten, sowie Interventionen, die sich auf spezielle Risikogruppen beziehen. Wie diese Strategien aussehen könnten, illustrieren sie erneut an den Erfahrung mit der Ausbreitung von HIV vor der Verfügbarkeit effektiver antiretroviraler Therapien: Damals richtete sich die allgemeine Intervention an Vorsichtsmaßnahmen und das Sexualverhalten der gesamten Bevölkerung – gemeint sind Kampagnen wie „Aids geht alle an“ oder „Gibt Aids keine Chance“. Die spezifischen Interventionen wiederum richteten sich an Risikogruppen wie homosexuelle Männer oder intravenös Drogenabhängige. „Erst das Zusammenspiel der allgemeinen und spezifischen Interventionen konnte die Situation soweit stabilisieren, dass medikamentöse Ansätze erprobt und wirksam werden konnten.“
Stattdessen setzen die allermeisten Länder aber beinahe ausschließlich auf verschiedene Abstufungen allgemeiner Präventionsmaßnahmen, von Empfehlungen, zu Hause zu bleiben oder Versammlungen zu meiden, über Einschränkungen der Freizügigkeit und der Berufsausübung, bis hin zu einem vollständigen Shutdown mit fast völligem Erliegen des Sozial- und Wirtschaftslebens wie in Italien und Spanien oder einem vollständigen Shutdown kombiniert mit einer Totalüberwachung auf der Ebene der individuellen Bürger wie es in China der Fall ist. „Es bleibt jedoch die wichtige Beobachtung bestehen, dass sich weder im Verlauf der Infektionszahlen noch in der Letalität zwischen den Ländern ein großer Unterschied zeigt, der auf die unterschiedlichen Ausprägungen der Ausgangsbeschränkungen und der Einschränkungen der Berufsausübung zurückzuführen wäre.“
Insbesondere lasse sich nicht ablesen, dass es mit stärkerer Einschränkung bis hin zum Shutdown zu einer deutlicher verzögerten Ausbreitung käme als bei niedriggradigeren Einschränkungen wie dem Social Distancing. Und selbst wenn man von einer hohen Effektivität dieser allgemeinen Containment-Strategien ausgehe, führe das zu einem paradoxen Problem: „Um so wirksamer das Abflachen der Kurve ist, um so wahrscheinlicher ist das Auftreten neuer Wellen nach Lockerung der Maßnahmen, weil in der vorangegangenen Welle eine relevante Immunität der Bevölkerung nicht erreicht werden konnte.“
Was also tun? Das derzeitige Vorgehen sei als isolierte Maßnahme theoretisch nicht ausreichend begründet, da es sich bei Covid-19 nicht um eine Epidemie handele, die alle Bevölkerungsteile gleichermaßen betrifft, sondern um eine Epidemie mit relativ genau benennbaren Risikogruppen: hohes Alter, Komorbidität, nosokomiales Risiko und Kontakt zu lokalen Clustern. Die unterschiedslose Beschränkung sozialer Kontakte sei deshalb wenig zielführend. „So ist es – anders als zum Beispiel bei einer Influenza-Epidemie, wo in der älteren Bevölkerung durch die vorangegangenen Infektionswellen eine (unvollständige) Immunität existiert – nicht nachvollziehbar, warum sich Kinder und Personen jüngeren Alters nicht frei bewegen können, zumindest solange sie ältere Personen oder solche mit Prädispositionen nicht kontaktieren.“
Es gehe also um die korrekte Zielgruppenansprache: Ältere Menschen müssten demnach größtmöglichen Schutz vor Ansteckung erhalten, aber auch Hilfen bei der Versorgung, ärztliche und pflegerische Versorgung vor Ort mit Schutzmaßnahmen, aber auch lokale Maßnahmen wie ein Slot von zwei Stunden zum Einkaufen mit selektiver Zurückhaltung der jüngeren Bevölkerung seien sinnvoll. Nachgerüstet werden müsste demnach insbesondere in den Gesundheitseinrichtung, von der Stratifizierung der Isolierung und Unterstützung nach Maßgabe der individuellen Komorbidität bis hin zur Gestaltung des nosokomialen Kontakts: So müssten unter anderem Kenntnisse und Strategien aus dem Infection-Control-Bereich verstärkt in die Krankenversorgung und Pflege übernommen, Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter priorisiert und getrennte Versorgungsbereiche eingerichtet werden.
Um die zukünftig immer wieder auftretenden Cluster in den Griff zu bekommen, müsse man ebenfalls hinreichende Strukturen schaffen: Das Autorenteam erwägt dazu eine Task Force. Denn für die Klärung solcher lokalen Krisensituationen sei es „von entscheidender Bedeutung, praktisch ohne Zeitverzug mit Experten-Teams vor Ort zu sein, um bei den anstehenden Maßnahmen Unterstützung zu leisten“. Erst, wenn diese risikogruppenspezifischen Präventionsmaßnahmen implementiert werden, könne über eine schrittweise Aufhebung der allgemeinen, unspezifischen Maßnahmen nachgedacht werden. Zu der Aussage, dass der derzeitige allgemeine Shutdown eine falsche Entscheidung gewesen sei, lassen sich die Autoren dabei nicht hinreißen. Zwar seien die bisherigen allgemeinen Maßnahmen „theoretisch schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem paradox“. Dennoch könne der Shutdown „anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein“.