Anstieg um 130 Prozent

Corona-Folgen: Essstörung und Ängste bei Jugendlichen

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Berlin -

Helena* erzählt ganz nüchtern vom Abrutschen in ihre Krankheit: Zuerst konnte sie wegen des corona-bedingten Lockdowns keinen Sport mehr machen und nahm zu. Dann stieß sie auf Workout-Videos im Internet, die oft zum Abnehmen anregen. „Ich hatte die Zeit, ich hatte keine Freunde mehr, keine Hobbys mehr, deswegen habe ich mich mit meiner Essstörung beschäftigt“, erzählt die 15-Jährige aus dem Allgäu. Helena ist eine von vielen Jugendlichen in Bayern, die während der Pandemie eine psychische Störung entwickelt hat – und nun oft mühevoll dagegen ankämpft.

So haben die als repräsentativ für den Freistaat geltenden Abrechnungsdaten der Krankenkasse DAK gezeigt, dass die Zahl neu diagnostizierter psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren zwischen 2019 zu 2021 massiv gestiegen ist. So legten neu diagnostizierte Angststörungen um 45 Prozent zu, gefolgt von emotionalen Störungen (+30 Prozent) sowie Depressionen (+25 Prozent). Im Vergleich zum Vorpandemiejahr 2019 stieg zudem die Zahl der jugendlichen Mädchen, bei denen Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie („Ess-Brech-Sucht“) neu diagnostiziert wurden, im Jahr 2021 um 130 Prozent.

„Nie hätte ich an Essstörung gedacht“

Bei Helena begann die Essstörung mit gesunder Ernährung, wurde dann aber zu exzessivem Sport, Aufstehen um halb fünf Uhr morgens und Erbrechen nach den Mahlzeiten. Ihre fünfköpfige Familie bemerkte das zunächst nicht. Ihre Mutter hielt ihre Bemühungen um Bewegung und Struktur sogar für ein positives Zeichen, „wir haben das noch belobigt am Anfang“. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass ihre Tochter in Wirklichkeit in eine Essstörung abgleitet.

Bei Maria, einer weiteren Jugendlichen, die während der Pandemie große Probleme entwickelte, zeigten sich die ersten Anzeichen einer sozialen Phobie schon vor Corona darin, dass sie in den Sommerferien nicht mehr ins Schwimmbad gehen oder mit ihrer Familie Fahrrad fahren wollte. Sie zog sich immer mehr zurück. Daher war es anfangs eine Erleichterung, während des Lockdowns nicht zur Schule gehen zu müssen, wie die 14-Jährige erzählt. Doch als die Lockerungen begannen, fiel es ihr schwerer als je zuvor.

Unter Isolation gelitten

Inzwischen zeigen diverse Studien, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vor allem aufgrund der Isolation und des fehlenden Kontakts zu Gleichaltrigen gelitten hat. Die Folge: Die Nachfrage nach Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die Kinder und Jugendliche behandeln, lag im vergangenen Sommer um 48 Prozent höher als in der Vor-Corona-Zeit, wie eine Ende April veröffentlichte Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung ergab.

Monatelange Wartezeiten sind dadurch vielerorts der Normalzustand. Es gebe zu wenig stationäre Behandlungsplätze, zu wenig Therapeuten, zu wenig Therapieplätze, sagt der Chefarzt Psychosomatik und Psychotherapie der Schön Klinik Roseneck, Ulrich Voderholzer. Was dem Experten für Angst-, Zwangs-, Depressions- und Essstörungen besonders gegen den Strich geht: Oft würden die Jugendlichen dann mit Antidepressiva behandelt, obwohl die Psychotherapie im Vordergrund stehen sollte.

„Ich sei nicht krank genug“

„Sehr verzweifelt“ sei sie gewesen, weil viele Kliniken, bei denen sie sich angemeldet hatte, lange Wartezeiten hatten, erzählt Maria. Nach monatelanger Suche bekam sie letzten Sommer einen Platz in einer Klinik. Nach einigen Monaten scheiterte ein Versuch, nach Zuhause zurückzukehren. Seither lebt sie wieder in der Klinik. Immerhin besucht sie inzwischen zumindest eine Schule in der Nähe – ein paar Stunden am Tag, dreimal in der Woche. Es ist ein Anfang.

Helena musste gegen einen weiteren Widerstand kämpfen, um Hilfe zu bekommen: Ihr Kinderarzt schätzte die Situation falsch ein und befeuerte die damals 14-Jährige nach ihren eigenen Worten, „dass ich sozusagen nicht krank genug sei“. Erst mit starkem Untergewicht landete sie schließlich in einem Krankenhaus. „Wer soll denn etwas tun, wenn der Fachmann es nicht wirklich ernst nimmt?“, fragt ihre Mutter sich bis heute wütend.

Heimkehr ist schwierig

In der Klinik übte Helena wieder „normal“ zu essen, erst allein mit einem Arzt, dann im Speisesaal - und schließlich zu Hause. Dennoch war die Heimkehr nach einem halben Jahr Klinikaufenthalt nicht einfach, wie die 15-Jährige erzählt. Die Familie habe gelernt, „ohne mich zu leben“. Inzwischen freue sie sich aber darauf, wieder Jazz und Ballett tanzen zu können – und auf eine Zeit, in der sie alles nachholen und wieder Spaß mit ihren Freunden haben könne. Auch Maria, die immer noch in der Klinik ist, freut sich darauf, endlich wieder ein „normales Leben“ zu führen.

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