Alles ist geschlossen, viele Menschen arbeiten von zuhause aus – und verbringen mehr Zeit mit ihren Partnern oder Familien, als sie es bisher gewohnt waren. Das stellt nicht nur viele Beziehungen auf eine Zerreißprobe, sondern hat vor allem für viele Frauen fürchterliche Folgen: Mehrere Staaten und selbst die UN berichten von einer Zunahme häuslicher Gewalt oder warnen davor. In Frankreich sollen nun die Apotheken Hilfe leisten: Mit einem Codewort können gefährdete Frauen diskret darauf hinweisen, dass sie in Gefahr sind.
Der Weiße Ring, eine international tätige Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, sorgt sich bereits um Frauen und Kinder, die wegen der derzeitigen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit zunehmend Opfer häuslicher Gewalt werden könnten. „Wir müssen leider mit dem Schlimmsten rechnen“, sagt der Bundesvorsitzende Jörg Ziercke. Die Corona-Krise zwinge die Menschen, in der Familie zu bleiben, hinzu kämen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit. „Diese Spannung kann sich in Gewalt entladen“, warnt Ziercke. „Unsere Opferhelfer kennen das von Festtagen wie Weihnachten: Wenn die Menschen tagelang zu Hause sind, gehen die Fallzahlen in die Höhe. Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als Weihnachten, die Stressfaktoren sind auch größer.“
Und tatsächlich mahnen Beispiele aus anderen Ländern, dass Ziercke Recht behalten könnte. Aus China, wo die Menschen teils zwei Monate unter strengen Ausgangsbeschränkungen leben mussten, kommen erschreckende Zahlen: So berichtet die Frauenrechtsorganisation Weiping, dass sich die Anfragen an sie wegen Fällen von häuslicher Gewalt seit der Corona-Krise verdreifacht hätten. Von staatlicher Seite sei bisher nur unzureichende Hilfe für die betroffenen Frauen und Kinder gekommen, kritisiert die Weiping-Vorsitzende Feng Yuan. „Die Polizei sollte die Epidemie nicht als Entschuldigung nehmen, häusliche Gewalt nicht ernst zu nehmen.“
Man muss aber nicht bis nach China schauen, um zu sehen, dass die Gefahr real ist: Frankreich berichtet von einer genauso dramatischen Zunahme von Übergriffen. Nur vor Beginn der Ausgangssperre in unserem Nachbarland hatte die Staatssekretärin für die Gleichstellung der Geschlechter, Marlène Schiappa, davor gewarnt, dass der Shutdown den „perfekten Nährboden“ für häusliche Gewalt biete. Eine gute Woche nach Beginn der Ausgangssperren bestätigte Innenminister Christophe Castaner die Befürchtungen: Allein innerhalb der ersten acht Tage habe die Polizei einen Anstieg von 32 Prozent bei ihren Einsätzen im Bereich der häuslichen Gewalt registriert, verkündete er. Im Großraum Paris waren sogar 36 Prozent – dort leben Familien oft unter besonders beengten Verhältnissen.
Deshalb hat die französische Regierung Ende März ein Projekt gestartet, um Apotheken bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt ins Boot zu holen. Während der Ausgangsbeschränkungen gibt es nur wenige Wege, die Betroffene suchen können, um der häuslichen Bedrohung zu entfliehen: Bis auf Apotheken und Supermärkte sind die meisten Geschäfte, Behörden oder sonstigen Einrichtungen geschlossen. Apotheken sind beinahe die einzigen Einrichtungen, in denen Bürger niedrigschwellig den direkten Kontakt suchen können.
Inspiriert von einem ähnlichen Projekt in Spanien, stellte Schiappa ein Codewort vor, das helfen soll, möglichst diskret Hilfe zu holen: Betreten sie eine Apotheke, sollen sie nach „Maske Nummer 19“ fragen. Die Apothekenmitarbeiter sollen daraufhin die Polizei alarmieren. Ende März ging dazu ein Rundschreiben bei den französischen Apotheken ein, das die neue Vorgehensweise erklärte. Die Regierung habe zudem weitere Maßnahmen ergriffen, um Betroffenen von häuslichen Übergriffen eine Fluchtmöglichkeit zu bieten. So finanziere sie 20.000 Hotelübernachten, um Familien eine Ausweichmöglichkeit zu ermöglichen.
In Deutschland gibt es ein solches Programm nicht. Am Donnerstag verkündete Familienministerin Franziska Giffey (SPD) jedoch, dass sie dem Problem mit einer Stärkung der Frauenhäuser begegnen will. So erhalten die Einrichtungen während der Coronakrise im Rahmen einer neuen Förderleitlinie finanzielle Unterstützung, um ihre Telefon- und Onlineberatung ausbauen zu können. Persönliche Beratungen seien in Zeiten von Kontaktsperren nur sehr schwer bis gar nicht durchzuführen. Gleichzeitig müsse aber gewährleistet werden, dass die Frauenhäuser auch in der jetzigen Situation ihre Arbeit weiterführen können. Giffey rief deshalb die Landesregierungen dazu auf, Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen als systemrelevant einzustufen und entsprechend mit Personal und Material zum Infektionsschutz auszurüsten. „Wie sehr sich die Lage in den eigenen vier Wänden in den vergangenen Wochen verschärft hat, wissen wir womöglich erst nach Ende der Krise“, so Giffey.
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