Zweierlei Impfstoffe für USA und Europa?

Booster: Im Herbst droht neues Impfstoff-Chaos Patrick Hollstein und Alexandra Negt, 12.07.2022 11:20 Uhr

Im Herbst soll gegen Omikron geboostert werden, doch Hersteller wie Moderna und Biontech warten auf Entscheidungen. Foto: Bihlmayer Fotografie/Shutterstock.com
Berlin - 

Wenn sich im Herbst die Menschen ihren zweiten Booster verabreichen lassen wollen, können sie laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) frei wählen: den Klassiker, eine angepasste Version gegen die Omikron-Variante (Biontech) oder einen bivalenten Impfstoff gegen beide Varianten (Moderna). Jetzt zeichnet sich aber ab, dass der Impfstoff mit deutlicher Verspätung kommen könnte. Außerdem könnten je nach Vertrag unterschiedliche Versionen zum Einsatz kommen. Es droht neues Chaos.

Warum dauert das so lange? Im Moment fragen sich viele Beobachter, weshalb die Omikron-angepassten Impfstoffe immer noch nicht zugelassen sind. Dabei geht es, so erläuterte die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) Ende vergangener Woche, vor allem um Studiendaten zur Wirksamkeit gegenüber den Subtypen. Die Überlegenheit gegenüber den bisherigen Impfstoffen hängt von der im Grunde nicht zu beantwortenden Frage ab, welche Variante im Winter vorherrschend sein wird.

Zwar hatten die Hersteller Anfang des Jahres gehofft, dass es ein vereinfachtes Zulassungsverfahren für die angepassten Impfstoffe geben wird. Bei Grippeimpfstoffen etwa legt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Zusammensetzung vor jeder Saison fest, sodass die Hersteller danach produzieren können, ohne jedes Mal neue klinische Studien durchführen zu müssen. Doch so weit scheint man bei den Corona-Impfstoffen noch nicht zu sein. Erst vor Kurzem machte Biontech-CEO Uğur Şahin in einem Interview seinem Ärger darüber öffentlich Luft.

Impfstoff erst im Spätherbst?

Das Verfahren zieht sich also in die Länge – vor September wird keine Entscheidung mehr erwartet, zumal die EMA erst einmal Sommerpause macht. Auf den Markt kommen die angepassten Vakzine dann wohl erst im Oktober, wenn überhaupt: Lauterbach hatte vor Kurzem sogar signalisiert, dass sich die Auslieferung bis in den Spätherbst verzögern könnte. Ansonsten ist von ihm in diesem Kontext noch weniger zu hören als von seinem Amtsvorgänger Jens Spahn (CDU), der die Liefermengen bis Dezember wöchentlich bekannt gemacht hatte.

Angesichts der schon jetzt hohen Fallzahlen droht ein neues Chaos, wenn die Nachfrage mit dem Ende des Sommers wieder sprunghaft ansteigt: Dann müssten Millionen Menschen mit dem alten und gegen Omikron weniger wirksamen Impfstoff geboostert werden – oder auf später vertröstet werden.

Dazu kommt, dass die EU – anders als die USA – offenbar noch gar keine Verträge geschlossen hat. Ob und wie viele Dosen geliefert werden sollen, wissen daher auch die Hersteller noch nicht: Derzeit habe man keine Informationen zu den internen Entscheidungen der EU, heißt es von Moderna. Und Valneva steht vor einem noch größeren Problem, weil die EU den Vertrag zum einzigen inaktivierten Ganzvirusimpfstoff kündigen will – mit der Begründung, dass die Zulassung zu lange auf sich warten ließ. Eine Anpassung an die Omikron-Variante sei aber nur zu finanzieren, wenn auch Dosen abgenommen würden, so der Hersteller. So scheint es für Menschen in Europa demnächst bald nur noch die mRNA-Impfstoffe zu geben.

Doch die Verspätung ist wohl nur ein Problem von mehreren. Denn auch wenn der neue Impfstoff tatsächlich verfügbar ist, werden viele Menschen in der Arztpraxis oder Apotheke nachfragen, welche Version sie denn nun eigentlich nehmen sollen. Und vielleicht werden sie auch wissen wollen, warum etwa in den USA eine neuere angepasste Version verabreicht wird als hierzulande.

FDA fordert Modifizierung

Vor knapp zwei Wochen forderte die US-Arzneimittelbehörde FDA die Hersteller auf, ihre bereits auf Omikron angepassten Vakzine im Hinblick auf die Sublinien BA.4 und BA.5 zu modifizieren. Man hoffe darauf, dass diese Impfstoffe dann im Herbst als Booster einsatzbereit seien, hieß es. „Da wir uns dem Herbst und Winter nähern, ist es entscheidend, dass wir über sichere und wirksame Booster-Impfstoffe verfügen, die Schutz vor zirkulierenden und neu auftretenden Varianten bieten können, um die schwerwiegendsten Folgen von Covid-19 zu verhindern.“

Das dürfte die Hersteller ziemlich in die Bredouille bringen, immerhin laufen seit einem halben Jahr klinische Studien mit den Impfstoffen, die an die in Deutschland nicht mehr kursierende Omikron-Sublinie BA.1 angepasst wurden. Parallel wird im großen Umfang auch schon Impfstoff produziert. Moderna teilte mit, dass man eigentlich ab August ausliefern könnte.

Immerhin, eine gute Nachricht gibt es: Laut Daten von Biontech und Moderna regen die angepassten Vakzine eine effiziente Immunantwort nicht nur gegen BA.1 an, sondern auch gegen die neueren Omikron-Sublinien BA.4 und BA.5 – gegen die sie eigentlich gar nicht gemacht sind. So könnte die ganze Arbeit am Ende doch nicht umsonst gewesen sein. Sofern die Behörden die Zulassung irgendwann erteilen.

Moderna lieferte erst gestern neue Studiendaten zu seinem Impfstoffkandidaten mRNA-1273.214 nach. Der bivalente Impfstoff enthält neben dem unter dem Namen Spikevax mittlerweile millionenfach verimpften Impfstoff der ersten Generation mRNA-1273 (Wuhan-Variante) eine auf die Omikron-Variante BA.1 angepasste Komponente. Laut Hersteller zeigen die Daten eine signifikant höhere Antikörperreaktion auch gegen die Subtypen BA.4 und BA.5 im Vergleich zum Vorgänger mRNA-1273.

Verglichen wurden die beiden Impfstoffe jeweils als zweiter Booster, den die Teilnehmer:innen vier Wochen nach dem ersten Booster erhielten. Bei allen Proband:innen zeigte sich nach der Auffrischung mit dem bivalenten Impfstoff eine höhere neutralisierende Antikörperreaktionen gegen die Omikron-Subvarianten BA.4 und BA.5 als nach einer 50-μg-Booster-Dosis mit dem derzeit zugelassenen Impfstoff mRNA-1273.

Noch sind die Daten nicht veröffentlicht, sie wurden bereits im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens eingereicht und den Aufsichtsbehörden übermittelt, sodass die Begutachtung bald abgeschlossen werden kann. Bei Moderna hofft man, dass die Daten überzeugen, und man weiter mit mRNA-1273.214 arbeiten kann. Bei jeder neuen Anpassung müsste nämlich erst die Überlegenheit nachgewiesen werden, was mit Fortschritt der Impfkampagne im Rahmen von klinischen Studen immer schwieriger zu organisieren ist.

Zweiter bivalenter Impfstoff

Gleichwohl arbeitet der Hersteller, wie von der FDA gefordert, an einem neuen bivalenten Impfstoff mit dem Namen mRNA-1273.222. CEO Stéphane Bancel erklärt: „Wir arbeiten mit den Regulierungsbehörden zusammen, um zwei bivalente Impfstoffkandidaten, mRNA-1273.214 und mRNA-1273.222, voranzutreiben, die auf unterschiedlichen Marktpräferenzen für Omikron-Subvarianten, klinischen Datenanforderungen und der Dringlichkeit des Beginns von Auffrischungskampagnen für gefährdete Bevölkerungsgruppen basieren.“ Generell belegten die Daten die Überlegenheit eines bivalenten Ansatzes.