Lieferengpässe wegen Coronavirus

„Bisher sind wir immer davongekommen, vielleicht auch diesmal“

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Berlin -

In Teilen Chinas steht die Wirkstoffproduktion für den Rest der Welt still und niemand kann jetzt schon vorhersagen, welche Folgen das für die hiesige Arzneimittelversorgung haben wird. Welche Rolle spielen dabei Lieferketten und Lieferantenkonzentration? Morris Hosseini ist Senior Partner und Pharmaexperte der Unternehmensberatung Roland Berger. Seit Jahren warnt er bereits vor der Konzentration der Wirkstoffhersteller in Indien und China, die Folgen der jetzigen Produktionseinbrüche durch das Corornavirus sieht er deshalb nicht als Problem, sondern als Symptom. Im Interview mit APOTHEKE ADHOC erklärt er, wie lange es dauern könnte, bis wir hierzulande die Ausfälle zu spüren bekommen. Um diese zu verhindern, müssten die europäischen Sozialsysteme demnach mehr Geld in die Hand nehmen als bisher.

ADHOC: Die Produktionsausfälle in China durch die Sicherheitsmaßnahmen der dortigen Behörden lassen Befürchtungen wachsen, dass sich die ohnehin schon angespannte Situation von Lieferengpässen bei Arzneimitteln noch verschärft. Kann es durch das Coronavirus zu größeren Lieferengpässen kommen?
HOSSEINI: Wir haben zu dem Thema schon vor längerer Zeit eine Studie gemacht, in der wir auf die Problematik hingewiesen haben. Von daher ist die Thematik nicht wirklich neu. Mit dem Coronavirus könnte sich die Situation nun verschärfen. Aber das Virus ist nicht die Ursache des Problems. Das Problem ist die Zentralisierung und Verknappung der Wirkstofflieferanten. Und der Grund dafür ist, dass die Preise so niedrig sind, dass sich eine Produktion in Europa finanziell nicht rechnet.

ADHOC: Wie lang ist der Zeitraum, den Hersteller einen großflächigen Produktionsausfall in China verkraften können?
HOSSEINI: Das ist eine ganz entscheidende und eine sehr brisante Frage, mit der man sehr verantwortungsvoll umgehen muss. Panik zu schüren ist bei diesem Thema auf jeden Fall das falsche Mittel. Denn wenn die Leute Angst hätten, dass beispielsweise die Antibiotika ausgehen und sich bevorraten, dann kann das erst recht zu Engpässen führen. Und seriös kann diese Frage auch gar nicht final beantwortet werden. Es kommt auf die Wirkstoffe an, aber auch auf die Hersteller, wie sehr sie sich bevorraten, wie hoch die Haltbarkeit ist und so weiter. Von dem, was ich bisher heraushöre, kann ich aber sagen: Die nächsten ein bis zwei Monate wird es keine größeren Einschränkungen geben, aber ewig wird es auch nicht gehen. Wir reden hier nicht von einem theoretischen Problem, es gab solche Verknappungen bereits, zum Beispiel wegen Produktionsausfällen. Bisher sind wir immer davongekommen, vielleicht auch diesmal. Wir müssen endlich an die Wurzel des Problems gehen, bevor der Tag kommt, an dem es nicht mehr gut ausgeht.

ADHOC: Welcher Zeitraum wäre in so einem Szenario realistischer Weise tragbar?
HOSSEINI: Tragbar ist prinzipiell keiner. Tragbar wäre es, wenn wir erst gar nicht in so eine Situation kommen. Deshalb weisen wir schon seit längerem auf das Problem hin. Das Coronavirus hat dafür gesorgt, dass das Thema wieder mehr Aufmerksamkeit erhält.

ADHOC: Welche Rolle spielt dabei die Struktur der Lieferkette?
HOSSEINI: Das ist bei jedem Wirkstoff anders. Bei Cephalosporinen beispielsweise ist die erste Produktionsstufe die Biofermentation, ein durchaus komplexes Herstellungsverfahren, bei dem Hefepilze den Grundstoff herstellen, der dann aufgereinigt werden muss. Im zweiten Produktionsschritt erfolgt dann die chemische Modifikation zum finalen Wirkstoff. Dann folgt ein dritter Produktionsschritt, bei dem mit Hilfe von Zusatzstoffen die finale Formulierung erzeugt wird, die Tablette oder Kapsel. Je nachdem, bei welchem Produktionsschritt welches Unternehmen übernimmt, ist auch die Informationslage eine andere. Es kann beispielsweise passieren, dass der Lieferengpass für den Hersteller in Indien entsteht, weil das dort ansässige Werk den Wirkstoff nicht liefern kann. Der Grund dafür ist dann aber eventuell, dass der Grundstoff aus China im indischen Werk fehlt.

ADHOC: Wie lang ist die durchschnittliche Verzögerung – wie lange dauert es also, bis ein Hersteller hierzulande in der Produktion spürt, dass kein Nachschub mehr aus den betroffenen Gebieten kommt?
HOSSEINI: Es gibt definitiv Verzögerungen, insbesondere dort, wo wir mehrstufige Prozesse haben. Die Spannen weichen aber deutlich voneinander ab, beispielsweise sind es beim einen Hersteller drei, beim anderen sechs Monate bis er es spürt. Momentan haben die Hersteller noch keine Probleme durch verschärfte Engpässe. Aber sie sind sich auf der anderen Seite auch bewusst, dass sie einen möglichen Engpass nur sehr vorsichtig in die Öffentlichkeit kommunizieren können.

ADHOC: Wie ist da der Informationsstand bei den Herstellern?
HOSSEINI: Für Alarmismus gibt es im Augenblick definitiv noch keinen Grund. In Gesprächen mit den Herstellern hören wir, dass sie gut auf einen zeitlich begrenzten Ausfall an Lieferungen vorbereitet sind. Aber die Situation darf auf keinen Fall kleingeredet werden. Wenn der Ausfall länger dauert, wird es problematisch und eine quick fix Lösung wird es dann nicht geben. Deshalb ist es höchste Zeit, dass Europa seine Abhängigkeit reduziert.

ADHOC: Neben der Diskussion über die Ursachen steht gerade vor allem die Frage nach der Nachvollziehbarkeit der Lieferketten im Raum. Sind die zu intransparent?
HOSSEINI: Wenn sie ein Arzneimittel in die Hand nehmen und nach dem Herstellungsort suchen, wird im Beipackzettel stehen, dass es in Deutschland oder in Europa produziert wurde. Das ist der Regelung geschuldet, dass per Nomenklatura der letzte Zusammensetzungspunkt als Herstellungsort gilt. Die Verengung der Produktion ist aber bei den Vorstufen – und wenn man da nicht beliefert wird, kann man auch nichts mehr verpacken.

ADHOC: Aber warum sind Lieferketten so schwer nachzuvollziehen?
HOSSEINI: Da kann man auf andere Industrien verweisen. Transparenz kommt durch Regulierung, reguliert wird jedoch fast nur der letzte Schritt. Woher ein Hersteller seine Wirkstoffe bezieht, ist auch ein wettbewerbliches Thema: Wer bezieht zu welchen Konditionen von wem seine Wirkstoffe? Reguliert der Gesetzgeber die Offenlegungspflichten, greift er auch in die Competitive Intelligence der Firmen ein. Sie würden auch von Automobilkonzernen nicht hören, von welchem Zulieferer und zu welchem Preis sie welche Schrauben beziehen.

ADHOC: Bräuchte es da mehr öffentlichen Druck für höhere Transparenz?
HOSSEINI: Ich glaube, diesen Wunsch gibt es. Aber mehr Transparenz würde zu mehr Regulierungsaufwand und damit auch mehr Kosten führen. Außerdem würde dieser Ansatz nicht die Ursache des Problems bekämpfen, nämlich die zu niedrigen Erstattungspreise.

ADHOC: Der GKV-Spitzenverband hat zu diesem Thema ja erst diese Woche ein Gutachten veröffentlicht, das zu dem Schluss kam, dass die Rabattverträge – und damit die niedrigen Preise – keinen Einfluss auf Lieferengpässe haben. Teilen Sie diese Meinung?

HOSSEINI: Das Problem ist für mich nicht der Rabattvertrag oder die Ausschreibung, sondern es sind schlicht die zu niedrigen Preise. Nehmen wir Antibiotika: Da erhält ein Hersteller im Schnitt 16 Cent für eine Tagesdosis, nach Rabattverträgen sind es nur noch 6 Cent. Wir haben das bei Roland Berger durchgerechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es bei einer Produktion in Europa ab 46 Cent kostendeckend wäre. Dann ist es müßig, mich darüber zu unterhalten, ob die Rabattverträge schuld sind.

ADHOC: Wie können sich Hersteller und Öffentlichkeit auf so eine Situation wie jetzt vorbereiten?
HOSSEINI: Es gibt da nur einen Weg und der ist, dass wir eine lokale Produktion in Deutschland beziehungsweise Europa aufbauen und uns bewusst sind, dass die Versorgungssicherheit im Zweifelsfall über wirtschaftlichen Partikularinteressen steht. Nehmen wir zum Beispiel erneut die Cephalosporine, eine wichtige Wirkstoffgruppe bei Antibiotika: Deren Rückverlagerung nach Europa würde nach unseren Berechnungen eine Steigerung von 0,25 Prozent der Gesamtarzneimittelausgaben verursachen. Ich glaube, dass Cephalosporine eine größere Bedeutung haben als 0,25 Prozent unserer Ausgaben.

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