Marie Klein und Martin Porwoll aus Bottrop waren die Whistleblower in einem der größten Medizinskandale Deutschlands. Sie machten bekannt, dass der Apotheker aus der Stadt im Ruhrgebiet über Jahre teure Krebsmedikamente streckte und die Patienten betrog. Ein Originalbeitrag des Recherchenetzwerks Correctiv.
Am 25. Oktober 2016 zieht Marie Klein unter dem Vordach einer Bottroper Buchhandlung ihre Handtasche von der Schulter. Ihr gegenüber steht ihr Kollege Martin Porwoll. Klein öffnet die Tasche, nur ein bisschen, sodass Porwoll sehen kann, was darin liegt. Nach ein paar Sekunden schaut er wieder weg, denn er will nicht auffallen. Es soll aussehen, als würden die beiden sich zufällig begegnen. Aber beide wissen, dass dieser Moment kein Zufall ist. Und beide ahnen jetzt, dass sie ihre Jobs verlieren werden.
In Marie Kleins Tasche liegt ein Infusionsbeutel. Etwa so groß wie ein Taschenbuch, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Zwei Löcher sind darin, ein Eingang und ein Ausgang. Durch den Eingang füllt man Medikamente ein. Durch den Ausgang fließen die Medikamente in die Blutbahn eines Patienten. Auf dem Beutel ist ein Aufkleber: „Cyramza“ steht da, der Name eines Medikaments gegen Krebs. Dazu der Name einer Patientin, die Cyramza braucht, um den Krebs zu bekämpfen. Dieser Infusionsbeutel hätte Hoffnung für diese Patientin sein können. Heilung vielleicht. Aber in der durchsichtigen Flüssigkeit ist kein Cyramza, es ist nur Kochsalzlösung. Das macht den Plastikbeutel zum Beweisstück. Marie Klein hat den Beutel aus der Apotheke genommen, in der sie arbeitet. Um zu beweisen, dass an ihrem Arbeitsplatz Medikamente gepanscht werden.
Martin Porwoll und Marie Klein sind Whistleblower. Sie haben geredet, während alle geschwiegen haben. Vielleicht haben sie damit Leben gerettet. Beide arbeiteten in der Alten Apotheke in Bottrop. Ihr Chef, der Apotheker Peter S., hat Krebspatienten um ihre Medikamente betrogen. Correctiv hat die Anwälte von Peter S. zu den Vorwürfen befragt, aber bis zum Redaktionsschluss keine Antwort erhalten.
In der Apotheke soll darüber getuschelt worden sein. Auch Porwoll und Klein kannten die Gerüchte. Aber anstatt nur zu beobachten, anstatt zu kündigen, entschlossen sie sich, zu handeln. Der Infusionsbeutel in Kleins Tasche ist das letzte Kapitel einer Geschichte, die durch Zufall begann, durch zynische Witze ihren Lauf nahm und mit einer Festnahme endet.
Es gibt viele Krebsmedikamente in Deutschland und viele Krebspatienten. Weil jeder Patient eine individuelle Behandlung braucht, können Onkologen Krebsmedikamente nicht abgepackt kaufen. Für jeden Patienten muss eine eigene Infusion angemischt werden. Das machen Apotheker. In Deutschland gibt es etwa 300 Apotheken, die Krebs-Medikamente mischen können – sogenannte Zyto-Apotheken. Marie Klein und Martin Porwoll arbeiteten in so einer Zyto-Apotheke, der „Alten Apotheke“ in Bottrop. Marie Klein als pharmazeutisch-technische Assistentin, Martin Porwoll als kaufmännischer Leiter.
Porwoll und Klein erzählen ihre Geschichte so: Im Winter 2014 kündigen zwei Kolleginnen in der „Alten Apotheke”. Beide arbeiten in der Zyto-Abteilung – dort, wo die Krebsmedikamente hergestellt werden. Ein vertrauliches Gespräch. Ein Gespräch von dem wir nur eine Version kennen. Als Porwoll sich mit den Frauen unterhält, die kündigen wollen, beklagen sie sich nach seinen Angaben über ihren Chef, dem die hygienischen Vorschriften in der Abteilung egal zu sein scheinen. Sie sagen, dass Peter S. das sterile Labor in Straßenkleidung betrete, dass er im Anzug die Medikamente zubereite. Sogar seinen Labrador soll er mit hinein genommen haben.
Aber das, meinen beide, sei noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sei, dass Peter S. Krebs-Medikamente unterdosiere. Bei manchen Wirkstoffen sei in jeder zweiten Dosis nur Kochsalzlösung, sagen die Frauen laut Porwoll. In der Apotheke war das bekannt. Aber sonst hat es niemand mitbekommen. Weil in Deutschland keine Behörde kontrolliert, ob die Zyto-Apotheken die Infusionsbeutel wirklich mit Medikamenten befüllen. Hygiene-Kontrollen gibt es, aber nur alle paar Jahre, meist mit Ankündigung. Für Porwoll ist es unfassbar, was die Kolleginnen erzählen. Er hält es erstmal für ein Gerücht. Ein Gerücht ist ein Schulterzucken, eine Lästerei unter Kollegen. Gerüchte holt man heraus, wenn man sie braucht – zum Beispiel in einem Kündigungsgespräch, um den ungeliebten Chef anzuschwärzen, um sich abzusetzen, um eine Ausrede zu haben. Wenn man Gerüchte nicht fassen kann, verdrängt man sie. So tat es auch Porwoll. Der Vorgang verschwand.
Ein halbes Jahr später, im Sommer 2015, stellt Marie Klein ihre Kaffeetasse auf einen Tisch in dem Großraumbüro, in dem auch Porwoll sitzt. Klein arbeitet zu diesem Zeitpunkt erst ein paar Monate in der Zyto-Abteilung. Aber sie ahnt längst, dass dort etwas nicht in Ordnung ist. Anfangs hatte sie den Fehler noch bei sich gesucht: Waren die Regeln etwa veraltet, die sie über die Herstellung von Krebs-Medikamenten kannte? Musste man nicht mehr steril arbeiten, die Infusionsbeutel nicht mehr kühlen? Sie zweifelte viel, aber erst mal nur an sich. Dann fassten die anderen Kollegen Vertrauen zu ihr. Gerüchte kamen hoch, erinnert sich Marie Klein. Sie erinnert sich, dass über Medikamente getuschelt wurde, die abgerechnet worden seien, ohne dass es sie gab. Gerüchte. Tuscheleien, die immer wieder hochkommen.
Porwoll und Klein werden Büro-Nachbarn. Sie verstehen sich gut, sie haben den gleichen Humor. Sie fangen an, Witze zu machen. „Die Anzüge vom Chef sind aus Teflon. Da prallt alles dran ab, damit kann man auch steril arbeiten.“ „Die Krebsmedikamente hier sind der Beweis dafür, dass Homöopathie wirkt.“ „Wie Jesus Christus Brot und Wein, so kann S. per Handauflage Wirkstoffe verdoppeln.“
Apotheker können mit Krebsmedikamenten viel Geld verdienen, mehrere hundert Euro pro Infusion. Und noch mehr Geld, wenn sie unehrlich sind. Wenn sie weniger von den teuren Medikamenten in die Infusionen füllen und mehr Kochsalzlösung. Dem Apotheker Peter S. wird vorgeworfen, diese Möglichkeit genutzt zu haben. So habe er Millionen verdient. Allein mit dem Medikament Opdivo soll er in einem Jahr etwa einen Überschuss von 615.000 Euro kassiert haben. Insgesamt geht es um 50 verschiedene Medikamente.
Lachen hilft, Dinge zu verarbeiten, die niemand verarbeiten kann. Es macht das Unfassbare fassbar. Vielleicht waren es diese Witze, die dafür gesorgt haben, dass Martin Porwoll verstand, dass er derjenige war, der alles beweisen konnte. Vielleicht auch nicht. Aber Porwoll wurde klar, dass er, der kaufmännische Leiter, auf alles Zugriff hatte: Zahlen, Rechnungen, Rezepte. Was ihm fehlte, war eine Gelegenheit, ein paar Stunden allein im Büro.
An einem Abend im Januar 2016 sitzt Martin Porwoll noch kurz vor Mitternacht in der Apotheke. Als alle Feierabend gemacht haben, ist er geblieben, weil noch Handwerker in der Apotheke waren, nach denen er sehen musste. Porwoll sucht aus den Unterlagen alle Rezepte für das Medikament Opdivo aus den letzten Monaten. Er rechnet zusammen, wie viel Opdivo Peter S. in dieser Zeit abgerechnet hat. Er kommt auf 52.000 Milligramm. So viel Opdivo müsste in den Infusionsbeuteln gewesen sein. Für so viel Opdivo hat Peter S. Geld bekommen. Dann rechnet Porwoll nach, wie viel Opdivo eingekauft wurde – wie viel des Medikaments sich überhaupt in der Apotheke befunden haben kann. Porwoll weiß nicht, was er finden will. Am liebsten wäre ihm Erlösung gewesen, der Gegenbeweis, der das Gerücht zum Gerücht macht und damit unwahr. Er addiert die Einkaufsrechnungen: 16.000 Milligramm.
Das sind 36.000 Milligramm zu wenig. 36.000 Milligramm, für die Peter S. Geld bekommen hat. 36.000 Milligramm, die nicht nur auf der Einkaufsrechnung fehlen, sondern in den Blutkreisläufen von Patienten. In einer Stunde, mithilfe einer einfachen Excel-Tabelle, wird das Gerücht zur Tatsache.
Seit Martin Porwoll von dem Betrug weiß, legt er sich jeden Abend nach der Arbeit in die Badewanne. 40 Grad. Er kocht sich selbst ab. Er wäscht den Dreck weg. Er ruft einen Anwalt an, einen Freund von früher, und erzählt ihm alles. Er sammelt noch mehr Beweise, macht die gleiche Rechnung für andere Medikamente als Opdivo. Immer wieder kommt heraus, dass viel mehr Wirkstoff abgerechnet wird als eingekauft. Mit seinem Anwalt zusammen schreibt Porwoll an einer Strafanzeige wegen gewerbsmäßigen Betrugs.
In dieser Zeit gibt es Tage, Wochen, in denen Porwoll am liebsten zurück möchte: zurück in die Ungewissheit, ins Verdrängen. Dann lässt er sich etwas mehr Zeit, um auf die Mails von seinem Anwalt zu antworten. Aber dann bekommt er einen Anruf, von einer Patientin, die eine Frage wegen ihrer Rechnung hat. Sie erzählt ihm, dass die Behandlung mit Opdivo ihr letzter Versuch ist, gesund zu werden. Da hilft es ihm nicht mehr, sich in die Badewanne zu legen. Sein Ziel ist es jetzt, dass die Apotheke schließt.
Tagsüber arbeitet Porwoll nun für die Apotheke, abends dagegen. Er kann nicht kündigen, weil er dann seinen Zugang zu den Beweisen verlieren würde. Er kann auch nicht vergessen, obwohl er es zwischendurch gerne würde. Die Patientin, die Opdivo bekommen sollte, ruft ihn wieder an: Sie hat aufgegeben. Es helfe alles nichts. Die Patientin denkt, das Medikament wirke einfach nicht – aber Porwoll vermutet, dass sie vom Apotheker betrogen wird. Als er im Sommer 2016 zwischen zwei roten Ampeln auf einer Verkehrsinsel steht, bekommt er eine Panikattacke; das Gefühl, gefangen zu sein, es ist jetzt überall. Er kann nicht mehr Auto fahren, denn auch das fühlt sich nach Käfig an. Zur Apotheke sind es zehn Minuten zu Fuß.
Im Juli 2016 reicht Porwolls Anwalt die Anzeige gegen Peter S. bei der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität in Bochum ein. Sie wird weitergereicht zur Staatsanwaltschaft in Essen. Porwoll hat sich vorgestellt, dass eine Kavallerie nach Bottrop kommen würde, den Apotheker festnehmen, die Mitarbeiter nach Hause schicken, die Tür des Hauses versiegeln.
Stattdessen wartet er. Wochenlang. Porwoll wird vernommen, die Polizei hat viele Fragen, er kann die meisten beantworten. Die Polizei erklärt ihm, dass sie nicht einfach einen renommierten Laden schließen können – nur wegen seines Verdachts. Sie brauchen mehr Beweise. Sie brauchen jemanden, der Zugang zu den Infusionsbeuteln hat, die die Apotheke verkauft. Gibt es da jemanden? Ja, sagt er. Marie Klein.
Als Martin Porwoll ihr Anfang Oktober 2016 von der Anzeige erzählt, hat Marie Klein sich schon nach neuen Jobs umgesehen. Sie hält es nicht mehr aus in der Apotheke, wo sie jeden Tag sieht, wie Infusionen ohne Wirkstoff an Ärzte und Krankenhäuser verschickt werden. Aber als Porwoll sie einweiht, läuft sie nicht weg. Porwoll gibt ihr die Karte des Kommissars, bei dem er war. Klein ruft ihn an. Geht hin. Muss in der Vernehmung schon weinen, als der Kommissar sie fragt, wieso sie gekommen ist. Und versteht, dass es jetzt an ihr liegt.
Zwischen dem Zeitpunkt der Anzeige und der Festnahme von Peter S. verlassen hunderte Infusionsbeutel die Apotheke. In einem System, das auf Vertrauen beruht, ist es leicht, zu betrügen. Kein Arzt würde seinem Apotheker unterstellen, falsch zu arbeiten. Kein Mitarbeiter will glauben, dass der eigene Chef aus Gier die Leben von Patienten gefährdet. Fragt man Porwoll und Klein heute, mit welchem Gefühl sie in dieser Zeit jeden Tag zur Arbeit gegangen sind, antworten beide mit dem gleichen Wort: „Schrecklich.“ Zwischen Panik, Druck und Traurigkeit helfen ihnen immer noch ihre Witze. Den Kommissar, bei dem sie beide zur Vernehmung waren, nennen sie „den Terrier.“ Weil er so einen Bart hat.
Am 25. Oktober 2016, ein paar Stunden bevor sie mit Martin Porwoll vor der Buchhandlung steht, nimmt Marie Klein die Rückläufer-Infusionen entgegen. Das sind Infusionsbeutel, die die Apotheke verlassen haben, die aber nicht bis zum Patienten gekommen sind. Zum Beispiel, weil die Blutwerte der Patienten zu schlecht sind, um ihnen eine Therapie zuzumuten. Marie Klein ist alleine in der Abteilung. Das kommt sonst nicht vor. Das ist ihre Gelegenheit. Sie nimmt einen Beutel heraus und schiebt ihn unter ihre Jeansjacke. Sie sucht in der Apotheke eine Box, in der man die Beutel beim Transport kühl hält. Dann steckt sie alles in ihre Handtasche. Am gleichen Tag zählt ein anderer Kollege die Rückläuferbeutel. Ihm fällt auf, dass einer fehlt. Marie Klein schaut weg und schweigt.
Nach ihrem Treffen mit Martin Porwoll vor der Buchhandlung muss Klein noch eine Nacht mit dem Infusionsbeutel verbringen, der ihr Leben verändern wird. Sie legt ihn in der Kühlbox auf die Ablage in der Küche, dann macht sie mit ihren Hunden einen langen Waldspaziergang.
Morgens im Auto die Zweifel: Was, wenn doch ein Wirkstoff drin ist? Mache ich mich lächerlich? Bin ich ein Verräter? Kann ich noch umdrehen? Dann der Polizist, der ihr den Infusionsbeutel aus der Hand nimmt und konfisziert, die Rückfahrt nach Bottrop. Ein ganz normaler Arbeitstag, sie kommt nur eine halbe Stunde zu spät. Sie habe noch einen Arzttermin gehabt, sagt sie zu den Kollegen. Alle glauben ihr.
Einen Monat später, am 29. November 2016 bekommen Marie Klein und Martin Porwoll eine Nachricht von einer Kollegin aus der Apotheke: „Der Terrier hat zugeschlagen” steht darin. Der Kommissar mit dem Bart war da. Seitdem sitzt Peter S. in Untersuchungshaft. Und dann geht alles ganz schnell: Innerhalb von 24 Stunden bekommen Porwoll und Klein eine Kündigung aus der Apotheke. Klein klagt vorm Arbeitsgericht, sie bekommt eine Abfindung zugesprochen – ein Monatsgehalt.
Wenn Martin Porwoll heute an der „Alten Apotheke” vorbeigeht, schaut er nach, wie viele Kunden da sind. „An Markt-Tagen standen die Leute früher Schlange bis vor die Tür“, sagt er. Das ist jetzt nicht mehr so, denn die Vorwürfe gegen Peter S. haben sich herumgesprochen. Aber es kommen immer noch einige. Die Apotheke musste nicht schließen, es gab einen Inhaberwechsel. Statt Peter S. ist im Handelsregister seit Mai 2017 Doris Stadtmann-Geyr aus Bottrop als Inhaberin eingetragen. Porwoll ist also noch nicht fertig.
Marie Klein geht nicht mehr an der Apotheke vorbei. Ihr wurde nie offiziell Hausverbot erteilt. Eigentlich würde sie gerne sehen, wie die Kollegen von damals reagieren. Sie könnte reingehen, nach Taschentüchern fragen oder nach einem Kalender. Aber sie sagt, so mutig ist sie nicht.
APOTHEKE ADHOC Debatte