Das Geschäft mit den Billigwindeln André Morawetz, 27.11.2015 09:17 Uhr
Die Versorgung von Kassenpatienten mit Inkontinenzprodukten bleibt ein Zankapfel. Während die Kassen finden, dass auch die Billigwindel ihren Zweck erfüllt, fühlen sich die Betroffenen um ihre Leistung betrogen. Die Markenhersteller halten sich mit Kritik zurück – weil sie auch die Discountvarianten liefern. Viele Apotheken haben den Bereich bereits abgeschrieben.
Inkontinenzprodukte auf Kassenrezept kommen in den Apotheken heute nur noch selten vor. So berichtet ein Inhaber aus Hessen: „In Akutfällen, zum Beispiel nach Prostata-OPs, sind die Billigwindeln in Ordnung.“ Für den Langzeitgebrauch hingegen sei die Qualität der Kassenwindel nicht zumutbar. Er kenne keinen einzigen Versicherten, der nicht sofort auf eine Premium-Variante umgestiegen sei. Habe ein Patient bereits eine Pflegestufe erreicht und verliere nicht nur einzelne Tropfen Urin, könnten die Produkte nicht benutzt werden. Besonders im stationären Bereich sei die Situation katastrophal.
Ihm seien auch Fälle bekannt, in denen Vertragspartner der Kassen nicht die benötigte Stückzahl an Windeln geliefert hätten. Die Versicherten müssten sich in solchen Fällen meist juristisch wehren. Eingeplant würden oft nur drei Windeln pro Tag sowie zwei Netzhosen im Monat. In Fällen von mittel bis stark ausgeprägter Inkontinenz sei das einfach zu wenig.
Als Schuldige für die Preisspirale hat der Apotheker die Hilfsmittelversender ausgemacht, die sich mit Dumping-Preisen an den Ausschreibungen beteiligten. Er vermutet, dass die Kassen durch ihre Aufsichtsbehörde zum Sparen verpflichtet sind. Seiner Meinung nach kann das Dilemma nur politisch gelöst werden; insofern freue er sich, dass das Thema inzwischen auch in Berlin wahrgenommen werde.
Ein Hilfsmittellieferant, der namentlich nicht genannt werden möchte, beurteilt die Situation anders: Die günstigen Windeln seien qualitativ in Ordnung, jedoch würden die Patienten bereits beim Arzt sehr häufig schlecht beraten. Gebe es Probleme, sei dies meist auf Anwendungsfehler zurückzuführen – nicht auf das Material.
„Man muss über auftretende Probleme sprechen und sich durchprobieren“, argumentiert eine Kundenberaterin. Vielen Anwendern sei es unangenehm anzusprechen, dass ihre Windeln verrutschten oder durchnässten. Um den Tragekomfort zu verbessern, müsse eng anliegende Unterwäsche getragen werden. „Keine Boxershorts oder irgend etwas Ausgeleiertes“, rät die Mitarbeiterin. Die Windel könne ansonsten gar nicht korrekt sitzen.
Viele Nutzer machten außerdem den Fehler, im Falle von Durchnässen zwei Einlagen übereinander zu tragen. Das funktioniere natürlich nicht: Die Schichtdicke spiele für das Aufsaugvermögen nur eine untergeordnete Rolle, da die Windeln nicht nur aus Zellstoff bestünden, sondern einen effektiven Superabsorber enthielten. Um ein optimales Produkt zu finden, verschicke man Gratisproben an die Kunden. Auf diese Weise komme jeder Anwender früher oder später zu einem passenden Produkt. Außerdem würden die Versicherten zeitnah versorgt: Die Belieferung gegen Kassenrezept erfolge innerhalb weniger Werktage.
Die Hersteller der Kassenwindeln fahren längst zweigleisig: Namhafte Unternehmen wie Paul Hartmann oder SCA (Tena) haben nicht nur Markenware im Sortiment, sondern auch Billigwindeln. Mitunter beteiligen sie sich auch selbst an den Ausschreibungen der Krankenkassen – und umgehen so die Handelsstufen.
Der Unterschied zwischen Gratis- und Premiumwindel sei gering, heißt es von beiden Unternehmen. Beide Varianten enthielten denselben Superabsorber, der den Urin in ein Gel umwandle sowie einen Geruchsstopper. Die maximal aufnehmbare Flüssigkeitsmenge sei deshalb identisch. Unterschiede gebe es lediglich beim Tragekomfort.
Mittlerweile nehmen die Kassen sogar Einfluss auf die Sortimente: SCA etwa hat eine atmungsaktive Windel auf den Markt gebracht. Nicht immer kommt das gut an: Viele Kunden seien zunächst verunsichert gewesen und hätten die neue Variante nicht akzeptieren wollen, berichtet eine Sprecherin. Je nach Kostenträger müsse jedoch die alte oder die neue Variante genutzt werden. Denn grundsätzlich entscheide die Kasse, aus welcher Serie der Kunde sich ein passendes Produkt aussuchen dürfe.
Eine der wenigen Kassen, die noch auf die Versorgung vor Ort setzt, ist die AOK Rheinland/Hamburg. Grundsätzlich sei man dazu verpflichtet, möglichst wirtschaftlich zu agieren, so ein Sprecher. Im Sinne der sach- und bedarfsgerechten Versorgung habe man sich jedoch für ein mehrstufiges Versorgungsmodell entschieden. Die AOK verpflichtet ihre Vertragspartner in den ersten drei Monaten zur Beratung und auch zur Kontrolle, ob die Versorgung die nötige Qualität erfüllt. An diese Zeit schließe sich eine maximal zwölf Monate lang andauernde Folgeversorgung an.
Der Leistungserbringer kann selbst wählen, welches Produkt er abgibt. Er erhält von der AOK dafür eine monatliche Pauschale, die sich nach dem Schweregrad der Erkrankung richtet. Bei leichter Inkontinenz werden 19,90 Euro, bei mittlerer Inkontinenz 28,52 Euro und bei schwerer Inkontinenz 41,73 Euro brutto vergütet. Über die Beträge war es vor einem Jahr zum Streit mit dem Hamburger Apothekerverein gekommen; am Ende war der Bundesverband Deutscher Apotheker (BVDA) eingesprungen.
Die AOK unterscheidet sich in ihrem Verfahren deutlich von vielen anderen Kassen. Insbesondere große Kassen wie die Barmer GEK oder die DAK setzen schon seit längerer Zeit auf Ausschreibungen. Die Gewinner verpflichten sich, Versicherte gegen eine Pauschale zu versorgen. Der Betrag, den die Kassen dafür zahlen, liegt meist bei weniger als 15 Euro pro Monat.
Laut Barmer GEK-Hilfsmittelreport lagen die GKV-Ausgaben für Inkontinenzartikel 2013 bei 464 Millionen Euro. Davon entfielen rund 350 Millionen Euro auf Windeln und Höschen. Einer Berechnung des Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) zufolge liegen die Ausgabe für eine Windeln bei einer Pauschalzahlung durch die Kasse bei lediglich sechs Cent. Aus Kassensicht ist damit eine ausreichende Versorgung der Versicherten gewährleistet.