Notfall Barmer Nadine Tröbitscher, 26.06.2017 12:29 Uhr
Akutfall oder Ausrede? Muss ein Protonenpumpenhemmer (PPI) wirklich so dringend abgegeben werden, dass der Rabattvertrag ignoriert werden kann? Nein, sagt die Barmer. Ja, der Apotheker. Die Entscheidungshoheit sollte nicht der Kasse überlassen werden. Denn wegen unterlassener Hilfeleistung haftet im Zweifelsfall nicht der Paragraphenreiter, sondern der Pharmazeut, kommentiert Nadine Tröbitscher.
Für Pharmazeuten ist eigentlich jede Versorgung ein Akutfall – egal, ob es sich um ein Antibiotikum, ein Asthmaspray, ein Vitamin-D-Präparat oder Omeprazol handelt. Der Arzt hat die Notwendigkeit der Therapie mit der Verordnung deutlich gemacht, kranken Patienten sollte ein zusätzlicher Weg nicht zugemutet werden. Von diesem Grundsatz wird im Rahmenvertrag abgewichen, denn der Rabattvertrag darf nur gebrochen werden, wenn kein Aufschub möglich und „eine unverzügliche Abgabe des Arzneimittels erforderlich“ sind.
Die Barmer nutzt dieses Zugeständnis, um jede als Akutversorgung gekennzeichnete Verordnung zu prüfen und neu zu entscheiden. Zur Rechtsgrundlage äußert sich die Kasse nicht. Ein PPI ist kein Notfall, keine Frage von Leben und Tod, findet die Kasse. Der Patient kann auch am nächsten Tag noch versorgt werden. Ein Blick in die Indikation verrät zwar, dass auch die Behandlung von Ulzera mitunter keinen Aufschub zulässt. Doch davon zeigt sich die Barmer unbeeindruckt. Schließlich gibt es in Großstädten genügend Apotheken, an die der Kunde verwiesen werden kann.
So wird die Rezepteinlösung in der Apotheke zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Schließlich könnte ja zum Beispiel eine der über 850 Apotheken in Berlin das benötigte Arzneimittel vorrätig haben. Der Patient wird Jäger des verlorenen Schatzes. Erst wenn er am Ende seiner Reise den Kopf unter dem Arm trägt, ist ein Akutfall offensichtlich. Die Mutter mit dem kranken Baby hat vielleicht mehr Glück und wird nicht quer durch die Stadt geschickt, weil sie dringend ein Antibiotikum braucht.
GKV-Versicherte werden ohnehin schon als Versicherte zweiter Klasse bezeichnet – was die Akutversorgung angeht, sind sie scheinbar Notfälle dritter Klasse. „Bei der Bewertung von Notfallsituationen kommt es immer auf den Einzelfall an“, so ein Sprecher der Barmer. Damit liegt er richtig: Ein Notfall ist eine individuelle Entscheidung im Einzelfall. Apotheker handeln dann im Sinne des Patienten, die Barmer im Sinne des Geldbeutels.
„Über 99 Prozent der Abrechnungen zwischen Apotheken und der Barmer laufen einwandfrei“, teilte ein Sprecher mit – schade, dass man sich am letzten Prozent so festbeißen und es zum neuen Geschäftsmodell machen muss. Auf dem Raubzug der Kasse wird dem Fachpersonal die Therapiehoheit entzogen. Die Patientensicherheit bleibt auf der Strecke, wenn Notfälle in den Geschäftsstellen kategorisiert werden, um Kosten zu sparen. Alles im Sinne des Kassenüberschusses. Patient und Apotheker werden aus dem Weg gekegelt.
Für die Apotheker geht es um alles. Denn kommt die Barmer mit ihrer Auslegung durch, wackeln die pharmazeutischen Bedenken. Auch Lieferengpässe bei Rabattpartnern werden dann zum Eiertanz. Nicht weniger als die Therapiehoheit steht auf dem Spiel – und am Ende die ordnungsgemäße Versorgung. Dass man sich wehren kann, zeigt der Fall der DAK, die vor zwei Jahren wieder eingeknickt ist. Also Apotheker, aufgewacht und nicht den diesjährigen DAT verschlafen!