Wegen Fachkräftemangel: Apotheke darf zwei Tage schließen Tobias Lau, 03.07.2019 10:03 Uhr
Apothekerin Annette Vaupel-Naumann muss sich nicht mehr an die Mindestöffnungszeiten halten, die ihr die Apothekerkammer Hessen eigentlich vorschreibt. Denn die Inhaberin der Ohm-Apotheken Nieder-Ohmen und Gemünden hat vor Gericht einen Vergleich mit der Kammer erzielt: Da sie nicht genügend Personal findet, um beide Apotheken entsprechend der Apothekenbetriebsordnung offen zu halten, darf sie die Filiale mittwochs und samstags schließen. Dem vorangegangen war ein Rechtsstreit inklusive angedrohter Strafzahlung und Zwangsschließung.
„Eine Lösung der Vernunft, vor allem für die ansässige Bevölkerung“, nennt Vaupel-Naumann die Einigung mit der Kammer. Denn die 58-Jährige betreibt zwei kleine Landapotheken in einer unterversorgten Region. „Ich könnte auch zusperren und als angestellte Apothekerin arbeiten, dann würde ich mit weniger Arbeit mehr Geld verdienen“, sagt sie. „Das will ich aber nicht. Es ist meine soziale Einstellung, dass ich für die Menschen hier da sein will und nicht einfach schließe.“ Da hätte ihr die Kammer allerdings beinahe einen Strich durch die Rechnung gemacht. Was sie vor hatte, sei existenzbedrohend gewesen, so die Inhaberin.
Vaupel-Naumann kämpft schon eine ganze Weile dafür, die Versorgung aufrecht zu erhalten. Seit 24 Jahren betreibt sie ihre Apotheke, nach eigener Aussage war sie in der Zeit kein einziges Mal krank. Vor zweieinhalb Jahren fing dann der Ärger an: Da verabschiedete sich der Leiter ihrer Filiale, um fünf Kilometer weiter eine Apotheke zu übernehmen. Sie könne ihm das nicht verübeln, das Verhältnis sei bis heute gut. Doch die Entscheidung stürzte sie in erhebliche Schwierigkeiten, denn es blieb nur eine weitere Apothekerin, die aber aus familiären Gründen nicht Vollzeit arbeiten kann. Die Arbeitsstunden reichten schlicht nicht mehr aus, um beide Apotheken voll geöffnet zu halten. Also entschied sich die Inhaberin, die Filiale mittwochs und samstags geschlossen zu halten – an diesen Tagen ist die nahegelegene Arztpraxis ebenfalls zu, das Patientenaufkommen entsprechend gering.
Einen weiteren Apotheker suchte sie trotzdem die ganze Zeit, durchweg erfolglos. „Wenn die hören ‚Landapotheke‘ und ‚Notdienst alle elf Tage‘, winken die doch gleich ab“, sagt sie. Der Plan mit den verringerten Öffnungszeiten funktionierte auch vorerst – bis zu einer Revision im vergangenen Jahr. „Der Pharmazierat ging hier durch und hatte überhaupt nichts an der Apotheke auszusetzen. Alles war 100 Prozent in Ordnung“, erinnert sie sich. „Und dann, ganz zum Schluss, sieht er das Schild mit den Öffnungszeiten.“ Die meldete er an die Kammer, die sich wiederum mit überaus unerfreulicher Post an Vaupel-Naumann wandte. Die Inhaberin hatte eine Anordnung im Postfach: entweder eine Strafzahlung von 5000 Euro und die Wiederherstellung der vollen Öffnungszeiten oder die Schließung der Filiale.
Doch Vaupel-Naumann wollte sich nicht so einfach geschlagen geben. „Ich habe mich mit meiner Anwältin kurzgeschlossen und dann gegen diese Beschlüsse Klage erhoben“. Denn sie wollte die vermeintliche Logik der Kammer nicht einsehen. „Man fühlt sich wirklich gegängelt. Die Kammer lebt noch eine Politik und Gesetzesauslegung wie aus dem letzten Jahrhundert“, so ihre Kritik. Damit begann ein fast einjähriger Rechtsstreit – der nun vor dem Verwaltungsgericht Gießen gütlich beigelegt wurde. „Es war eine lebhafte und intensive Diskussion, aber alles in allem eine recht harmonische Verhandlung“, erinnert sie sich an die entscheidende Sitzung vor wenigen Tagen.
Die Kammer habe mit der Versorgungslage und Nacht- und Notdiensten argumentiert. Letzteres sei aus dem Zusammenhang gerissen: Die Öffnungszeiten seien davon vollkommen unabhängig, sie werde selbstverständlich mit der Apotheke sämtliche Nacht- und Notdienste laut Plan absolvieren, beteuert Vaupel-Naumann. Aber die verringerten Öffnungszeiten seien nunmal Voraussetzung dafür, dass sie die Apotheke überhaupt noch betreiben kann. „Ich habe denen gesagt: Was habt ihr denn davon, wenn wir, statt die Öffnungszeiten zu verringern, schließen müssen? Wenn wir irgendwann alle zugemacht haben, seid ihr auch überflüssig!“
Die Kammer wiederum verteidigt ihr Vorgehen. „Personalmangel ist an sich kein Grund für eine Befreiung von den Mindesöffnungszeiten“, sagt eine Sprecherin auf Anfrage. „Der Fachkräftemangel ist ein Problem, das in der Masse auftritt.“ Außerdem gebe es in Hessen bereits die Möglichkeit, bei Personalmangel flexibel zu reagieren: So könne an Samstagen und einem von der Apotheke zu wählendem Tag unter der Woche jeweils nachmittags geschlossen bleiben. Nur vormittags müsste dann mindestens drei Stunden offen sein.
Letztendlich einigten sich beide Parteien dann aber doch auf einen Deal: Vaupel-Naumann darf ihre Filiale mittwochs und samstags geschlossen halten, solange sie der Kammer regelmäßig nachweist, dass sie weiter auf der Suche nach einem Approbierten ist, um die ordnungsgemäßen Öffnungszeiten wiederherzustellen. Also schaltet sie nun auch auf der Seite der Kammer jeden Monat ein Stellenangebot. Den entscheidenden Ausschlag, Vaupel-Naumann eine befristete Ausnahmegenehmigung zu erteilen, war die allgemeine Versorgungssituation in Gemünden: „Außer der Apotheke gibt es keinerlei Einkaufsmöglichkeiten mehr im Ort“, so die Kammer. Einen kleinen Tegut-Supermarkt gebe es noch, aber der werde auch bald schließen. Außerdem sei die Befristung entscheidend. „Es handelt sich um eine Ausnahmegenehmigung, das darf man nicht vergessen. Sobald Frau Vaupel-Naumann einen Apotheker gefunden hat, muss sie sich wieder an die Mindestöffnungszeiten halten.“ Große Hoffnung, dass das in allzu naher Zukunft sein wird, hat die Inhaberin allerdings nicht: „Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass ich sowieso niemanden bekommen werde.“
Die gütliche Einigung sei auf Ermutigung des Gerichts zustande gekommen, erzählt sie. So habe der Richter darauf verwiesen, dass es unter anderem in Thüringen einen ähnlichen Fall gegeben habe. Bei der Landesapothekerkammer in Erfurt stiftet eine dahingehende Nachfrage aber eher Verwirrung: Einen solcher Fall sei zumindest aus den letzten zehn Jahren nicht bekannt. Es habe höchstens Situationen gegeben, in denen wegen akuter Notlagen – mehrfache krankheitsbedingte Ausfälle beispielsweise – für kurze Zeiträume eine Verringerung der Öffnungszeit zugelassen worden sei. Dass eine Apotheke aber dauerhaft an einem oder mehreren Wochentagen geschlossen bleibe, sei nicht vorgekommen. Auch bei der hessischen Kammer ist kein weiterer Fall bekannt, genauso wenig bei den Kollegen in Bayern. Beide Parteien – Vaupel-Naumann und die Apothekerkammer Hessen – betonen jedoch unisono, dass es sich nicht um einen Präzedenzfall handele, weil kein Urteil gefallen ist. Deshalb könne sich auch niemand auf das Verfahren berufen.
Für Vaupel-Naumann kam die Entscheidung für einen Vergleich überraschend. „Ich hatte eigentlich gehofft, die lassen mich wenigstens noch bis Ende des Jahres so weitermachen, damit ich die Filiale abwickeln kann. Man kann ja nicht mit vollem Lager über Nacht schließen.“ Doch vor allem die Schöffenrichter hätten sie bestärkt: „Die haben gesehen, dass es auf dem Land nun mal mau aussieht mit der Versorgung und dass man eine praktikable Lösung finden muss.“ Die Kammer müsse manche ihrer Prämissen überdenken und sich an die heutigen Verhältnisse anpassen, so die Richter demnach. Für Vaupel-Naumann ist der Ausgang ein Zeichen auch an die Kollegen, „dass es sich lohnt, sich Entscheidungen der Kammer auch mal entgegenzustellen“, wie sie sagt. „Und ich finde es sehr schön, dass sie eingesehen haben, dass ich das nicht mache, weil ich nicht öffnen will, sondern weil das eine Notsituation ist.“