Hinter der Diskretionslinie zu warten, zählt wohl zu den unbeliebtesten Zeitvertreiben im Alltag, egal ob vorm Postschalter oder in der Apotheke. Aber auch für das Apothekenpersonal kann die Diskretionslinie zum Ärgernis werden, nämlich dann, wenn sich Kunden nicht angemessen verhalten und dem Vordermann halb im Rücken liegen. Apotheker Jens Krautscheid hat eine kreative Möglichkeit gefunden, das Problem zu lösen.
Kunden der Park-Apotheke im bayerischen Dorfen können ihren Apothekenbesuch nicht nur zum Arzneimittelkauf nutzen, sondern auch um tänzerischen Fertigkeiten aufzufrischen: Statt einer schlichten Linie mit dem Wort Diskretion erwartet sie nämlich eine Anleitung zum Walzertanz. „Vorschlag: Nutzen Sie die Wartezeit, um Ihre Walzerkenntnisse aufzufrischen“ steht da unter dem Hinweis „Bitte respektieren Sie die Vertraulichkeit der Beratung“. Dazu gibt es eine Schritt-für-Schritt-Anleitung des Wiener Walzers.
Die Idee hat Krautscheid von Pinterest, ursprünglich ist der Aufkleber in der Harmon‘s Pharmacy im US-Bundesstaat Utah zu finden. „Ich habe das für lustig befunden und mich entschieden, das auf Deutsch zu übersetzen und auf den Wiener Walzer umzumünzen“, erzählt er. Kann er denn so gut tanzen, dass er den Unterschied zwischen Waltz und Walzer darstellen kann? „Nein! Ich habe die Grazie eines Elefanten“, lacht er, „aber man kann ja alles googeln.“
Auf jeden Fall hat sich die Arbeit, eigene Sticker herzustellen, gelohnt. Die Leute tanzen zwar nicht, reagieren aber zumindest mit einem Schmunzeln – und warten tatsächlich auf der Markierung. Vorher sei das anders gewesen: „Wie die meisten Kollegen habe ich mich oft über Kunden geärgert, die den Diskretionsabstand nicht einhalten“, erzählt er. Er habe gar zwei verschiedene Varianten ausprobiert: Sowohl eine Linie auf dem Boden als auch einen Ständer mit einem DIN A4-Blatt – geholfen habe beides nicht viel.
Verbraucherschützer empfehlen Konsumenten drei Punkte, wenn es um Diskretion geht: Erstens soll man den Diskretionsabstand selbst einhalten, zweitens den Apotheker darauf hinweisen, dass es sich um ein vertrauliches Gespräch handelt und man ihn unter vier Augen sprechen möchte. Der dritte Rat: Patienten sollen in einem der Situation angemessenen Ton sprechen oder das Problem auf ein Blatt Papier schreiben und es dem Apotheker zeigen. Von den durchschnittlich 200 Produkten hinter dem HV-Tisch erfordert laut einer Untersuchung jedes vierte eine diskrete Beratung. Immer wieder gibt es daher Initiativen, die das vertrauliche Gespräch zwischen Apotheker und Patienten gewährleisten sollen.
Bei der Apothekenkooperation Avie setzt man seit zwei Jahren auf ein Schallschutzkonzept, das als Zusammenspiel unterschiedlicher, teils einfachster Maßnahmen funktioniert: Spezielle Schallschutzplatten über dem HV-Tisch absorbieren Geräusche. Kaum wahrnehmbare Hintergrundmusik sorgt für Entspannung und lässt sich bei Bedarf während des Kundengesprächs direkt am Verkaufsplatz hochregeln.
Eine andere Idee kommt von Matthias Bußmann aus Ahlen, mit Kollegen hat er die „Apotheke ohne Handverkaufstisch“ entwickelt. Nach dem Umbau seiner Park-Apotheke gibt es jetzt Beratungsinseln, an denen Kunde und Mitarbeiter nebeneinander stehen. Eine Sichtwahl gibt es nicht, stattdessen werden die Produkte auf einem Videobildschirm sowie auf einem in den Tisch eingelassenen Display präsentiert.
Krautscheid braucht keine Beratungsinseln mit eingelassenen Bildschirmen, in seiner Offizin kann er die Kunden mit kreativem Aufklebern auf Distanz halten. „Ich glaube, dass das über den Humor funktioniert“, sagt er. Und just am Montag war es dann auch endlich so weit: Er hatte die erste Tänzerin. „Eine ältere Dame hat die Anleitung ausprobiert und ihre Wartezeit genutzt, um zu tanzen.“ Er zeigt sich zufrieden mit dem Ergebnis: „Die Leute haben gute Laune und das ist ja das, was ich wollte.“
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