Warteraum für E-Rezeptkunden Patrick Hollstein, 20.01.2024 08:39 Uhr
Das Sanitätshaus hat Pech gehabt. Weil sich im Ärztehaus seit der Einführung des E-Rezepts plötzlich die Patientinnen und Patienten stauten, mussten die Räume im Erdgeschoss kurzerhand freigemacht werden. Hier ist ein spezieller Wartebereich entstanden, in dem man als Kunde auf die Signatur warten kann.
„Warten bis der Arzt kommt“, dieser Spruch hat seit der Einführung des E-Rezepts eine gänzlich neue Bedeutung bekommen. Denn weil die Verordnungen oft stapelweise signiert werden, stehen Patientinnen und Patienten regelmäßig mit „leerer eGK“ in der Apotheke. Bis der Arzt zum virtuellen Stift gegriffen hat, können schon einmal ein paar Stunden vergehen. Eine Verzögerung, die die Apothekenteams in Erklärungsnot bringt. Sollte mit der Digitalisierung nicht alles schneller und einfacher werden?
Das Problem: Sobald der Kunde genervt das Weite gesucht hat, gibt es für die Apotheke keine Chance, das E-Rezept zurückzuholen. Denn ohne Einstecken der eGK gibt es keinen Zugriff auf den Fachdienst. Ausdrucken lässt sich der Token ohne Freigabe auch nicht. Eine App, mit der das Rezept nach der Ausfertigung geschickt werden kann, wollen die meisten Kundinnen und Kunden nicht. Und der Botendienst kostet gerade bei weiten Wegen so viel Geld, dass sich der Aufwand kaum noch lohnt.
Seine schiere Existenzangst brachte eine Apothekerin aus Thüringen jetzt auf eine brillante Idee. Im Eingangsbereich des Ärztehauses, in dem sich ihre Apotheke befindet, richtete sie eine spezielle Wartezone für Kundinnen und Kunden mit E-Rezept ein. Hier können diese nun entspannt die Zeit überbrücken, bis ihre signierte Verordnung auf dem Server eingeht: Einfach Nummer ziehen und warten, bis man aufgerufen wird. Das Apothekenteam bringt warmen Tee und Gebäck, Zeitschriften des Lesezirkels liegen aus.
Zunächst musste nur das Sanitätshaus weichen, da die Flächen für die Wartezone benötigt wurden. Doch mit zunehmender Verbreitung des E-Rezepts drängen sich immer mehr Menschen in die umgewidmeten Räume. Also wird der Bereich um eine Praxis im 1. Stock erweitert; wie gut, dass der Arzt ohnehin in Pension gehen wollte. Am Ende sind 10 von ehemals 14 Praxen aufgegeben und umgewidmet, nur im 3. OG werden jetzt noch Patienten behandelt und E-Rezepte ausgestellt.
Dafür ist ein Wartekomplex mit Vorzeigecharakter entstanden: mit Massagesesseln, Bällebad und sogar einem kleinen Spa-Bereich. Auch aktuelle Kinofilme werden gezeigt und warme Mahlzeiten angeboten. Man munkelt sogar, dass sich einige Menschen nur deswegen E-Rezepte ausstellen lassen, damit sie diese Annehmlichkeiten genießen können. Die Wartenummern werden längst unter der Hand weiterverkauft.
Deutlicher Rezeptschwund
In Wirklichkeit ist die Sache weit weniger lustig: Kolleginnen und Kollegen in Ärztehäusern müssen derzeit tatsächlich die Erfahrung machen, dass die Verzögerungen beim E-Rezept für sie an die Substanz gehen könnten. Dr. Milad Khosravani von der Karolinger Apotheke in Aachen hat schon zwei Wochen nach der verpflichtenden Nutzung des E-Rezeptes einen deutlichen Rezeptschwund beobachtet: „Der Standortvorteil Ärztehaus verliert mittelfristig an Wert. Es könnte einen gefährlichen Trend zum Versandhandel geben.“
Dabei ist es nicht nur die Sorge, dass eine substanzielle Anzahl an Rezepten an den Versandhandel oder an die Konkurrenz gehen könnte – sondern dass die Stammkunden der Apotheke gleich gänzlich den Rücken kehren könnten: Gerade in ländlichen Regionen fahren die Menschen nach dem Arztbesuch auf ihre Dörfer zurück – und wenn sie dann verärgert über ihre Apotheke sind, die ihr Rezept wegen fadenscheiniger Gründe plötzlich nicht mehr sofort beliefern kann, bleiben sie womöglich ganz weg.
Der Fall zeigt, wie wenig zu Ende gedacht das E-Rezept ist – und wie unzureichend die angeblich Testphase war. Zwar haben die Praxen drei Möglichkeiten, um E-Rezepte zu signieren, aber offensichtlich taugt keine davon für den Praxisalltag, in dem ein fliegender Wechsel von Sprechzimmer zu Empfangstresen die Regel ist.
Und es ist auch nicht die einzige Konstellation, an der es beim E-Rezept noch hakt. Ob Nachtrag der Charge bei Abholern, fehlende Antwortmöglichkeit bei Vorbestellungen, Korrektur von falsch gesetzten Aut-idem-Kreuzen oder Mengenkürzung aufgrund von Nichtverfügbarkeit – es hakt an vielen Ecken und Enden. Von unklaren Arztbezeichnungen gleich ganz abgesehen. Jede Apotheke kennt solche Horrormeldungen, auf die auch die Hotlines der Softwarehäuser teilweise keine Antwort kennen.
Durchschnittlich fünf Minuten länger dauert die Bearbeitung eines E-Rezepts, hat eine Befragung von aposcope ergeben. Und jedes fünfte E-Rezept ist fehlerhaft, hat der Apothekerverband Nordrhein (AVNR) in Erfahrung gebracht. Viele Apothekerinnen und Apotheker fürchten eine neue Retaxwelle. Der Deutsche Apothekerverband (DAV) fordert eine Friedenspflicht, der Ärzteverein IG Med sogar eine Rückkehr zu Muster-16, bis alle Probleme behoben sind.
Mit solchen weltlichen Themen hält sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) allerdings nicht mehr auf. Er ist längst weitergezogen zu Gesundheitskiosken und Gesundheitsregionen – parallelen Strukturen, für die die Kassen bald dreistellige Millionenbeträge pro Jahr aufbringen sollen. Und auch die Apothekenreform will er durchziehen, über neue Protestmaßnahmen hat man sich beim Pharmacon in Schladming zwischen Fortbildung, Eisstockschießen, Hüttenparty und Nachtrodeln sicher auch die Köpfe zerbrochen, allerdings ohne Abda-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening und DAV-Chef Dr. Hans-Peter Hubmann.
Die Medien haben derweil über angeblich massenhafte illegale Paxlovid-Verkäufe berichtet, bei mehr als 25 Staatsanwaltschaften sollen Strafanzeigen eingegangen sein. Was es damit auf sich haben, darum geht es auch im aktuellen Podcast NUR MAL SO ZUM WISSEN. Hörempfehlung! Schönes Wochenende!