Bei der Zytostatika-Herstellung kommt es auf jedes Milligramm an, und zwar auch beim Müll. Denn Verwürfe müssen – wenn irgendwie möglich – weiterverarbeitet werden. Entscheidend dafür ist das in der Hilfstaxe festgelegte Haltbarkeitsdatum. Doch einige Krankenkassen scheinen Apotheker dazu zu drängen, auch verfallene Ausgangsstoffe zu verarbeiten. Und wer nicht mitmacht, wird retaxiert, wie etwa die Sempt Apotheke in Erding. Apotheker Dr. Franz Stadler will das nicht hinnehmen.
Eigentlich ist der Umgang mit Verwürfen in der Hilfstaxe geregelt: Für 14 Wirkstoffe ist dort aufgeführt, in welcher Zeitspanne sie verarbeitet werden dürfen. Bei Azacitidin sind es etwa 22 Stunden, bei Bortezomib acht Stunden, bei Mephalan anderthalb Stunden und bei Paclitaxel 28 Tage. Für alle nicht aufgeführten Wirkstoffe wird eine Haltbarkeit von 24 Stunden angenommen.
Bei der Haltbarkeit sieht Stadler ein Grundsatzproblem. Denn die Angaben in der Hilfstaxe entsprechen seiner Meinung nach nicht immer den tatsächlichen Gegebenheiten. Dies mache ein Blick in die Sekundärliteratur deutlich: Der im Janssen-Präparat Velcade enthaltene Wirkstoff Bortezomib beispielsweise ist laut Hersteller nur acht Stunden haltbar – diese Angabe wurde in die Hilfstaxe übernommen. In der Datenbank Stabilis, in der Stabilitäts- und Kompatibilitätsdaten von Parenteralia publiziert werden, gebe es hingegen Angaben, nach denen der Wirkstoff bis zu 42 Tage haltbar sei, so Stadler. Diese Haltbarkeiten seien jedoch arzneimittelrechtlich nicht relevant, da sie nicht vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüft und zugelassen worden seien.
Prinzipiell sind die Pharmafirmen für Informationen über die Haltbarkeit verantwortlich. Aus Stadlers Sicht haben aber insbesondere Originalhersteller kein Interesse an langen Haltbarkeiten, denn weniger Verwürfe seien gleichbedeutend mit weniger Umsatz. Am Beispiel von Bortezomib rechnet Stadler vor, dass Janssen-Cilag allein durch die abgerechneten Verwürfe der Jahre 2013 und 2014 mehr als 20 Millionen Euro zusätzlich umgesetzt hat.
Anders sieht es aus, wenn ein Wirkstoff generisch wird. Dann sei es aus Marketinggründen von Vorteil, längere Haltbarkeiten anzugeben, so Stadler. Und tatsächlich: Während das Original Remicade von Hospira (Infliximab) von MSD Sharp & Dohme nur 24 Stunden haltbar sein soll, bestätigte Hospira gegenüber Stadler, dass das Biosimilar Inflectra seine physikalisch-chemische Stabilität und seine biologische Aktivität 21 Tage lang behalte. Diese inoffiziellen Angaben zur längeren Haltbarkeit sind arzneimittelrechtlich aber ebenfalls nicht relevant. Denn in der Fachinformation heißt es nach wie vor, die gebrauchsfertige Lösung sei 24 Stunden stabil.
Durch die kurzen Haltbarkeiten in der Hilfstaxe ist es aus Sicht von Stadler kaum möglich, Verwürfe zu vermeiden. Spätestens vor dem Wochenende müssten regelmäßig Anbrüche vernichtet werden, meint er. Doch in der Praxis zeige sich ein anderes Bild: Bei einer Umfrage unter Krankenhausapothekern im Jahr 2014 hätten nur 8 Prozent der Teilnehmer angegeben, sich streng an die Fachinformationen der Hersteller zu halten. Apotheker nutzen zur Bewertung der Haltbarkeit etwa die „Stabil-Datenbank“ der Universität Mainz, die sogenannte „Krämer-Liste“, und eigene Untersuchungen.
Stadler geht davon aus, dass die Kassen die Apotheken unter Druck setzen, um sie dazu zu bringen, Stammlösungen länger zu verwenden als es die Hilfstaxe erlaubt. Er selbst geht seit einigen Jahren gegen Retaxationen der AOK Bayern vor – der Fall liegt nach wie vor beim Sozialgericht, eine Entscheidung gibt es noch nicht. Die Kasse retaxiert derweil weiter: „Sie schuldet uns inzwischen fast 40.000 Euro – und dabei haben wir bislang nur die Retaxationen bis April 2015“, so Stadler.
Die kurzen Haltbarkeiten in der Hilfstaxe hält Stadler größtenteils für nicht gerechtfertigt. Besonders die sicherheitsorientierte Pauschalisierung von 24 Stunden sieht er kritisch: „Es gibt jede Menge Publikationen unterschiedlicher Güte und Provenienz, die mit einer hohen Variabilität zum Teil erheblich längere Haltbarkeiten postulieren“, sagt er. Das Problem: Niemand kann oder will dafür die Haftung übernehmen.
Aufgrund der Datenlage kann Stadler durchaus nachvollziehen, dass Krankenkassen darauf drängen, der täglichen Arbeit längere Haltbarkeitszeiten zugrunde zu legen. Und das einfachste Druckmittel seien Retaxationen. Einige Apotheker gäben dem nach. Diesen Apothekern wirft Stadler „mangelnde Sorgfalt und fehlendes Rückgrat“ vor: „Sie wollen Verluste durch Retaxationen vermeiden und geben deshalb dem Druck der Kassen nach, zum Teil wider besseren Wissens.“
Allerdings begeben sich Kassen und Apotheker, die die Haltbarkeiten der Wirkstoffe ignorieren, in einen rechtlichen Graubereich. Und die Apotheker müssten im Schadensfall haften, warnt Stadler seine Kollegen. Denn die Abgabe nicht verkehrsfähiger Arzneimittel – und nichts anderes sind verfallene Ausgangsstoffe – stelle einen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz dar. „Da haftet kein Hersteller und keine Versicherung“, gibt der Apotheker zu bedenken.
Stadler stört, dass es regelkonform praktisch unmöglich ist, Verwürfe zu vermeiden, und dass die Kassen trotzdem offenbar genau das verlangen. Er kritisiert, dass das Thema bislang totgeschwiegen werde: Apothekerverbände, Kassen und die Politik verwiesen lediglich auf die Hilfstaxe und darauf, dass die Sache damit eindeutig geregelt sei. „Dass sich kaum jemand daran hält, das wird ignoriert“, moniert Stadler.
Der Apotheker fordert, dass sich alle Beteiligten wieder an die Hilfstaxe halten. „Alles andere ist Wahnsinn“, findet er. Schließlich seien die herstellenden Apotheken formaljuristisch die einzigen und damit vollständig Haftenden – aus seiner Sicht ein „existenzgefährdender Zustand“. Langfristig sollten Stadler zufolge die Generikahersteller die längeren Haltbarkeiten in die Fachinformationen aufnehmen, sodass sie in die Hilfstaxe überführt werden können. Bei den Originalherstellern sieht er den Gesetzgeber in der Pflicht: Der sollte eine Haltbarkeitsprüfung über mindestens vier Wochen zur Voraussetzung für die Zulassung machen, meint Stadler.
Derweil ist es für die Apotheken nahezu unmöglich, Zytostatika herzustellen, ohne sich einem Retax-Risiko auszusetzen: Denn laut Stadler bezahlen einige Kassen die abgerechneten Verwürfe nicht, während andere auf Null retaxieren, weil keine Verwürfe abgerechnet wurden. „Es herrscht völlige Willkür“, so sein Fazit.
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