Das Vorabgenehmigungsrecht der Krankenkassen bei der Versorgung mit medizinischem Cannabis bleibt ein Ärgernis für Apotheken und Ärzt:innen – und vor allem für die Patient:innen selbst. Das Sozialgericht Karlsruhe hat nun in einem Streit über eine Kostenübernahme die umstrittene Absicht des Gesetzgebers gestärkt: Cannabis kommt erst als allerletzte Option infrage.
Cannabis ist ein besonderes Arzneimittel, nicht nur pharmazeutisch, sondern auch sozialrechtlich. Denn im Gegensatz zu anderen Arzneimitteln müssen Patient:innen bei Blüten, Dronabinol & Co. trotz ärztlicher Verordnung Kostenübernahmeanträge stellen – von denen im Durchschnitt jeder dritte abgelehnt wird. Immer wieder ziehen Patient:innen deshalb gegen ihre eigenen Krankenversicherungen vor Gericht, mit unterschiedlichem Ausgang.
Vor dem Sozialgericht Karlsruhe hat ein Patient nun eine Niederlage eingefahren, bei der es nicht um Blüten oder Rezeptursubstanzen ging, sondern um Sativex, das einzige zugelassene Fertigarzneimittel auf THC-Basis und neben Epidiolex (Cannabidiol) und Canemes (Nabilon) eines von nur drei zugelassenen Cannabis-Fertigarzneimitteln. Bei dem 27-Jährigen wurden eine chronifizierte Fibromyalgie mit schwerem Verlauf und einer depressiven Störung, die sich als deren Folge eingestellt hat, diagnostiziert. Hinzu kommt eine Angststörung. Die starken, dauerhaften Schmerzen quälen ihn insbesondere im unteren Rückenbereich und strahlen bis in die Beine aus. Zunächst wurde er deshalb mit Amiltriptylin, Novaminsulfon, Lycica 75 und Ortoton behandelt – alles ohne eine spürbare Verbesserung seiner Situation.
Also setzte sein Arzt auf Sativex im Off-Label Use: Eigentlich ist das Mundspray für die Behandlung Multipler Sklerose zugelassen. Da jedoch die Wirkung von THC in der Schmerztherapie sowie auch bei Depressionen und Angststörungen mittlerweile hinlänglich bekannt und belegt ist, schien die Anwendung einen Versuch wert. Und sie war es auch: Nach übereinstimmender Einschätzung von Patient und Arzt führte das Mittel zu einer deutlichen Schmerzlinderung. Doch damit konnten sie seine Kasse, die AOK, nicht überzeugen.
Denn der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen Baden-Württemberg (MDK) kam in einem Gutachten zur Kostenübernahme vom März 2020 zu dem Ergebnis, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Übernahme von Sativex nicht erfüllt seien: Den vorliegenden Angaben zum Verlauf der Erkrankung zufolge sei nämlich nicht eindeutig davon auszugehen, dass es sich bei dem chronischen Schmerzsyndrom um eine schwerwiegende Erkrankung handelt. Auch bestehe keine „nicht ganz fernliegende Aussicht“, dass mit Sativex eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder die schwerwiegenden Symptome erzielt werden kann. Stattdessen stünden therapeutische Alternativen zur Verfügung. Dabei widersprach der MDK in zweierlei Hinsicht dem behandelnden Arzt: Der versicherte, dass für den konkreten Fall keine weiteren Therapiemöglichkeiten in Betracht kämen und hatte in einer Stellungnahme erklärt, dass Sativex zu einer Verringerung der Schmerzen um 70 bis 80 Prozent führten.
Viermal hatte er das Spray seinem Patienten zuvor auf Privatrezept verordnet. 1423,66 Euro kostete ihn das. Erst als er sich die Therapie nach eigenen Angaben nicht mehr leisten konnte, versuchte er sein Glück bei der Kasse. Gegen das Gutachten des MDK legte er Widerspruch ein und reichte dazu wiederum ein Gutachten seines Arztes ein, der erneut betonte, dass verschiedene Analgetika und Muskelrelaxantien (Methocarbamol, Myopridin, Tolperison), die sein Patient einnimmt, keine hinreichende Linderung brachten – die Sativex-Behandlung hingegen schon. Also veranlasste die Kasse ein erneutes Gutachten des MDK, das diesmal speziell darauf verwies, dass alternative Ansätze wie multimodale Therapie über einen längeren Zeitraum sowie medizinische Reha-Leistungen noch nicht voll ausgeschöpft wären. Ein Widerspruchsausschuss der Kasse wies den Widerspruch des Patienten daraufhin zurück. Dagegen klagte er.
Unterdessen war er aus besagten finanziellen Gründen auf Opioide umgestiegen und hat nach eigenen Angaben mit deren typischen Nebenwirkungen – Benommenheit, Obstipation, Harnverhalt – zu kämpfen. Nur durch die Einnahme von Sativex zwischen März und September 2020 sei er in der Lage gewesen, seine berufliche Leistungsfähigkeit wiederherstellen und dauerhaft erhalten zu können, erklärte er im darauffolgenden Gerichtsverfahren. Er wollte allerdings nicht nur eine Verpflichtung zur Kostenübernahme erwirken, sondern auch die Erstattung der 1400 Euro, die er bereits aus eigener Tasche für die Therapie aufgebracht hatte. Doch die Kasse blieb dabei: Er habe keinen Anspruch. Allein aus dem Hinweis auf eine Linderung seiner Beschwerden ergäbe sich kein Leistungsanspruch gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung. Außerdem würden die bisherigen Gutachten nicht zweifelsfrei bestätigen, dass er an einer schwerwiegenden Erkrankung leidet.
Es folgte das nächste MDK-Gutachten, das erneut zu einer anderen Einschätzung kam: Aufgrund der ausgeprägten Symptomatik sei sehr wohl von einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen, außerdem bestehe aufgrund der Datenlage doch eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht darauf, dass Cannabinoide den Krankheitsverlauf oder schwerwiegende Symptome bei Patienten mit Fibromyalgie spürbar positiv beeinflussen könnten. Allerdings sei den Unterlagen nicht zu entnehmen, dass der Kläger im empfohlenen Umfang Ausdauertraining, Gymnastik und Funktionstraining absolviere. Außerdem ergehe aus den Leistungsdaten nicht, dass eine Psychotherapie durchgeführt wurde, wie sie nach den maßgeblichen Leitlinien bei rezidivierender Depression und generalisierter Angststörung als relevante komorbide psychische Störungen indiziert ist.
Auf das Hin und Her von Gutachten und Widerspruch folgten schließlich Anhörungen vor Gericht, erst des behandelnden Arztes und schließlich eines externen Gutachters, eines Oberarztes für Neurologie und Sektionsleiters Schmerztherapie an einem Klinikum. Sein Urteil: Eine Indikation für Cannabistherapie sei gegeben, eine schwerwiegende Erkrankung liege vor, der Kläger leide unter den teils schweren Nebenwirkungen der eingenommenen Opioide und bis auf die Reha und die stationäre multimodale Schmerztherapie seien alle Alternativen ausgeschöpft worden. Ob die angesichts der bereits eingetretenen Erfolge der Cannabistherapie noch zielführend sind, erscheine ihm fraglich. Aber: Zumutbar wären sie.
Nicht zuletzt deshalb folgte das Gericht dem Antrag der AOK und wies die Klage ab. Das bisher ausgelegte Geld für die Privatrezepte könne der Patient nicht erstattet bekommen. Zwar sei es ein gängiger Weg, einem gesetzlich Versicherten ein Privatrezept auszustellen, um dessen Erstattung er sich dann selbst bemüht. „Diese Grundsätze gelten jedoch nicht, wenn das Gesetz (…) ausnahmsweise die Genehmigung einer Arzneimittelverordnung vorsieht“, so die Richter. „In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Vorab-Prüfung, sondern um eine endgültige Prüfung der vertragsärztlichen Verordnung.“ Auch generell habe er keinen Anspruch auf die Erstattung einer cannabisbasierten Therapie. Zwar habe er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass er durch die Folgen seiner Erkrankung erheblich in seiner Lebensführung beeinträchtigt ist und ohne Opioide keiner geregelten Arbeits- oder Ausbildungstätigkeit, keinen sportlichen Aktivitäten und auch „keinem altersentsprechenden strukturierten Tagesablauf“ nachgehen kann. Allerdings seien die genannten alternativen Therapieoptionen weder voll ausgeschöpft worden noch hätte glaubhaft belegt werden können, dass sie unzumutbar sind. Obwohl er also bereits zuvor ungekannte Therapieerfolge mit Sativex erlebt hat, muss der Kläger nun also wohl erst einmal eine stationäre multimodale Schmerztherapie absolvieren.
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