„Lieber Versorgungszentren als Light-Apotheken“ Patrick Hollstein, 29.01.2014 13:21 Uhr
Mit dem Auto sind Apotheken in Deutschland gut zu erreichen: 99,84 Prozent der Menschen sind in 15 Minuten am Ziel; selbst zu Fuß brauchen 59 Prozent nicht länger als eine Viertelstunde. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Untersuchung des Braunschweiger Thünen-Instituts für Ländliche Räume, das zum Kompetenzbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gehört. Wie die Ergebnisse zu interpretieren sind und welchen Handlungsbedarf es gibt, erklärt Studienautor Dr. Stefan Neumeier im Interview mit APOTHEKE ADHOC.
ADHOC: Wie würden Sie die Ergebnisse Ihrer Studie kurz zusammenfassen?
NEUMEIER: Die Versorgung ist in ländlichen Gebieten deutlich schlechter als in den Verdichtungsräumen. Allerdings sind – wegen der geringen Bevölkerungsdichte – nur vergleichsweise wenige Menschen davon betroffen.
ADHOC: Gibt es in Deutschland konkrete Versorgungsprobleme?
NEUMEIER: Das lässt sich schwer abschätzen. Wir haben noch nicht untersucht, wie die womöglich betroffenen Menschen ihre individuelle Situation wahrnehmen und wie sie damit umgehen. Wir wissen nicht, welche Bewältigungsstrategien zum Tragen kommen. Dazu bräuchte es weitere Untersuchungen vor Ort, für die wir jetzt die Grundlage geschaffen haben.
ADHOC: Wann ist eine Apotheke aus Ihrer Sicht schlecht zu erreichen?
NEUMEIER: Es gibt verschiedene Ansätze, dies zu definieren. Im politischen Kontext wird oft von einer Entfernung von 500 bis 1000 Metern oder einer Gehzeit von zehn Minuten ausgegangen. Ich habe mich an anderen wissenschaftlichen Untersuchungen orientiert, denen zufolge von den Verbrauchern 15 Minuten für die Wegstrecke akzeptiert werden.
ADHOC: Das klingt nach wenig. Immerhin brauchen auch in Großstädten viele Menschen eine Stunde bis zur Arbeit.
NEUMEIER: Die Wahrnehmung ist tatsächlich individuell sehr unterschiedlich. Grundsätzlich sind Menschen auf dem Land eher bereit, weitere Wege zurückzulegen. Aber anders als bei der Frage nach dem Arbeitsweg soll eine Nahversorgung am Wohnort möglich sein. Das ist eine politische Aussage. Der Einzelhandelserlass in Nordrhein-Westfalen beispielsweise geht von zehn Minuten Gehzeit aus.
ADHOC: Laut Ihrer Studie haben 0,16 Prozent der Bevölkerung nicht die Möglichkeit, eine Apotheke zu Fuß oder mit dem Auto in 15 Minuten zu erreichen. Wo leben diese rund 130.000 Menschen?
NEUMEIER: Tendenziell handelt es sich um periphere ländliche Regionen. Eine vergleichsweise geringe Erreichbarkeit gibt es in den neuen Bundesländern: in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, dem Nordosten Sachsen-Anhalts, aber auch in Rheinland-Pfalz oder am Alpenrand. Das hat teilweise auch mit dem Verkehrsnetz zu tun.
ADHOC: Und welche Menschen sind dort betroffen?
NEUMEIER: Das lässt sich anhand unserer Daten schlecht ableiten. Wir wissen aus den demografischen Statistiken, dass viele jüngere Menschen aus diesen Regionen abwandern und der Altersdurchschnitt entsprechend hoch ist. Andererseits gibt es auf dem platten Land mehr Pendler, die einen größeren Aktionsradius haben – sich im Zweifelsfall ihre Arzneimittel also am Arbeitsort besorgen.
ADHOC: Sind das Überlebenskünstler?
NEUMEIER: Ich finde schon. Wenn Sie in abgelegenen Regionen leben, müssen Sie sich immer wieder an Veränderungen anpassen. Es ist etwas ganz anderes, wenn auf dem Dorf ein Tante-Emma-Laden oder eine Apotheke schließt als in der Stadt. Wenn Sie dann kein Auto haben, wird es problematisch.
ADHOC: Aber auf dem Land zu leben ohne Auto: Ist das nicht wie Wandern ohne Schuhe?
NEUMEIER: Natürlich ist es wahrscheinlich, dass pro Haushalt mindestens ein PKW existiert. Insofern ist unsere Rechnung nur eine Annäherung. Aber es gibt auch viele alte Menschen, die allein leben und nicht mobil sind. Diese sind dann auf ihr soziales Netzwerk angewiesen. Das ist vielfach auf dem Land noch dichter als in der Stadt, aber die Tendenz ist rückläufig.
ADHOC: Also sind diese 130.000 Betroffenen erst einmal eine rein statistische Größe?
NEUMEIER: Ja.
ADHOC: Muss man sich um diese eventuell betroffenen Menschen trotzdem kümmern?
NEUMEIER: Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, dass die Menschen in Deutschland überall gleichwertige Lebensbedingungen haben sollen. Nun muss die Politik entscheiden, ob sie beispielsweise Fördergelder für Regionen bereitstellt, in denen die Bevölkerung altert, schrumpft und womöglich irgendwann gar nicht mehr da ist. Im Übrigen sind alle Absichtsbekundungen sinnlos, wenn am Ende doch alleine der freie Markt entscheidet.
ADHOC: Wie ist die Situation in anderen Branchen?
NEUMEIER: Ich habe außer den Apotheken die Versorgung mit Tankstellen und Supermärkten untersucht. Da gibt es grundsätzlich dasselbe Muster, was unsere Aussagen zu Apotheken validiert.
ADHOC: Wie sieht es mit der Versorgung im Notdienst aus?
NEUMEIER: Dazu kann ich nichts sagen, denn die relevanten Informationen hatte ich nicht. Aus für mich schwer nachzuvollziehenden datenschutzrechtlichen Bedenken hat die ABDA eine Nutzung ihrer Daten verweigert.
ADHOC: Sind Light-Lösungen aus Ihrer Sicht ein Kompromiss?
NEUMEIER: Aus meiner Sicht wären eher Versorgungszentren etwa mit Apotheke, Arzt und Supermarkt eine Lösung. Dadurch wird zwar im Einzelfall die Entfernung größer, aber es lassen sich eben auch verschiedene Wege verknüpfen. Auch unter Qualitätsaspekten kann das sinnvoll sein.
ADHOC: Sie führen auch den Versandhandel als Lösung an. Werden dadurch die Strukturen nicht noch weiter ausgedünnt?
NEUMEIER: Der Versandhandel kann aktuell als Bewältigungsstrategie dienen, übrigens genauso wie der Lieferdienst der Vor-Ort-Apotheken. Eine Folgenabschätzung war nicht Gegenstand meiner Erhebung. Momentan sehe ich Versandapotheken nicht als ernst zu nehmende Konkurrenz, zumal die Beratungsfunktion fehlt. Aber generell ist nicht auszuschließen, dass er irgendwann einen Verdrängungswettbewerb in Gang setzen könnte.
ADHOC: Stichwort Apothekenbus: Was halten Sie von mobilen Versorgungsangeboten?
NEUMEIER: Auch das wurde nicht untersucht. Ich persönlich halte das für ein interessantes Modell. Die Frage ist aber immer, welche Regionen der Bus ansteuert. Wenn er am Ende nur vor dem Ärztehaus hält, ist den Menschen sicher nicht geholfen.