Tausche Einkaufskonditionen gegen Kontingentware Patrick Hollstein, 14.03.2023 11:51 Uhr
In den Apotheken halten die Lieferengpässe unverändert an, eine „deutliche Entspannung“, wie von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) postuliert, ist nicht zu beobachten. Im Grunde sei man bei Zuständen wie in der DDR angekommen, sagte Daniela Hänel, Vorsitzende des Vereins Freie Apothekerschaft, bei APOTHEKE LIVE, dem Live-Talk von APOTHEKE ADHOC und PTA IN LOVE: Manche Medikamente seien mittlerweile „Bückware für Stammkunden“. Und Wolfgang Späth, Vorstand bei Hexal, bestätigte, dass man derzeit eigentlich nur noch den Mangel verwalte.
Hänel berichtete aus dem Alltag in ihrer Apotheke. Sie selbst komme morgens eine Stunde eher und bleibe eine Stunde länger, um Verfügbarkeiten zu checken. Selbst am späten Abend jage sie noch so manchem plötzlich auftauchenden Angebot hinterher. Vier verschiedene Großhändler habe sie sich mittlerweile ins Boot geholt, um möglichst viele Lücken stopfen zu können. Dabei geht es nicht mehr um Einkaufskonditionen: Die Inhaberin der Linda Apotheke in der Nordvorstadt verzichtet bewusst auf alle Rabatte – gegen die Zusicherung, auch Kontingentartikel geliefert zu bekommen. „Das ist natürlich wirtschaftlich gesehen nicht sehr gut, aber immer noch besser, als wenn ich gar nichts da habe. Dann habe ich nämlich nicht nur unzufriedene Kunden, sondern auch Aufwand ohne Umsatz.“
Späth sprach von einem „perfekten Sturm“, der über den deutschen Arzneimittelmarkt hereingebrochen sei: Eine stark schwankende Nachfrage aufgrund von Covid-Effekten sei auf Lieferkettenprobleme getroffen – aber auch auf strukturelle Unzulänglichkeiten im Markt, die seit Jahren kleingeredet würden. „Die Ware, die wir in den Markt liefern, verpufft.“ Als Hersteller müsse man derzeit mit viel Fingerspitzengefühl kontingentieren, damit die benötigten Medikamente nicht nur regional ausgeliefert würden oder bei wenigen Apotheken ankämen. „Man versucht, den Mangel zu verwalten.“
Der Wirkstoff sei oft gar nicht das Problem, so Späth. „So ein Ibuprofen kriegen Sie irgendwo her.“ Eng werde es derzeit bei Glasflaschen oder Papier für Beipackzetteln. Hinzu komme die stark schwankende Nachfrage. Die Produktion müsse langsam wieder hochgefahren werden, aber das dauere.
Das Problem sei Ergebnis einer verfehlten Politik: „Lieferengpässe hat es immer gegeben und wird es immer geben. Mal gibt es eine verkeimte Anlage, mal spielt die Behörde nicht mit. Was fehlt, um solche typischen Störungen abzufangen, ist die Anbietervielfalt. „Wenn es – wie noch vor einigen Jahren – zehn Anbieter für Fiebersäfte gäbe, hätten Sie die aktuellen Ausfälle gar nicht gemerkt.“
Paradebeispiel Tamoxifen
Ähnlich sei es bei Tamoxifen: „Alle Verantwortlichen waren darüber informiert, dass sich immer mehr Hersteller verabschiedet hatten, weil die Preise so ruinös sind.“ Heute habe Sandoz einen Marktanteil von 80 Prozent – und damit eine sehr hohe Verantwortung für die Patientinnen. „Wenn wir aussteigen würden, gäbe es kein Tamoxifen in Deutschland mehr. Das ist ein hoch aktiver Arzneistoff, der in einem gesonderten Produktionsbereich verarbeitet wird, in dem auch keine Frauen arbeiten dürfen. Das heißt, die Kapazitäten sind begrenzt.“
Weiteres Beispiel: Penicillin V. Auch hier gebe es bei manchen Formulierungen nur noch einen Anbieter – und angesichts der Preise müsse man sich wundern, dass die noch da sind. Dass die Festbeträge ausgesetzt wurden, ist laut Späth einzustufen zwischen „Schritt in die richtige Richtung“ und „Symbolpolitik“. „Wenn man die Logik aufnimmt, würde das im Umkehrschluss ja bedeuten, dass die Industrie die ganze Zeit Ware vorrätig hatte und nur nicht nach Deutschland verkauft hat, weil der zweite Euro gefehlt hat. Das ist doch Unsinn.“
Niemand habe Interesse an Engpässen, denn unabhängig von etwaigen Strafzahlungen im Zusammenhang mit Rabattverträgen habe man als Hersteller einen Namen zu verlieren. Dabei sei die Aussage, dass Ausschreibungen den Markt stabilisierten, eine Verdrehung der Verhältnisse: Die Industrie bekomme mit dem Zuschlag keineswegs eine Abnahmegarantie für die nächsten 2,5 Jahre. „Wenn die Erkältungswelle ausbleibt, haben Sie keinen Umsatz, sondern nur riesige Abschreibungen.“
Kritik an TK-Chef
Dass TK-Chef Jens Baas unlängst von „obszönen Ursprungspreisen“ der Generikahersteller gesprochen hat, ist für Späth ein Unding: Er rechnete vor, dass die Verwaltungskosten der GKV mit 5 Prozent bei 14 Milliarden Euro lägen. Zum Vergleich: Die Nettokosten für Generika im ambulanten Bereich lägen bei 2 Milliarden Euro – und damit würden 80 Prozent der Versorgung abgedeckt. „Die Verwaltungsausgaben der Kassen sind siebenmal höher!“ Das liege auch daran, dass alleine bei der TK für das Geld 20.000 Leute beschäftigt sein könnten – so viele wie bei Sandoz weltweit. „Das ist doch irre. Und von der Verwaltung ist noch niemand gesund geworden.“
Es sei längst überfällig, die Architektur des Systems zu ändern, so Späth. Es gehe um eine Diversifizierung der Lieferketten und Produktion in Europa. Eine Reallokation der gesamten chemischen Industrie sei nicht zu machen, aber zumindest in der Arzneimittelherstellung sei ein bisschen Unabhängigkeit notwendig. Bei der Produktion von Chips würden solche Anstrengungen unternommen, aber bei Medikamenten wolle man sich das nicht leisten, wundert sich Späth.
Hänel: Staat verdient an erhöhten Festbeträgen mit
Was Hänel an der Debatte auch noch stört: Dass der Staat an den erhöhten Festbeträgen über die Mehrwertsteuer auch noch mitverdient. Angesichts der Margen der Apotheken und der Industrie sei das schwer zu begreifen. Noch krasser findet die Apothekerin, dass ausgerechnet in dieser Phase, wo alle besorgt um die Versorgung seien, die Vorstandsgehälter bei den Krankenkassen erhöht würden. „Das ist Schlag ins Gesicht ohne gleichen, da wird Geld ausgeben mit vollen Händen.“
Und wenn die Festbeträge jetzt wieder abgesenkt werden, werden die Hersteller dann die Preise hochhalten? Späth erklärt das Dilemma. Aufzahlungen passen eigentlich nicht zu Positionierung von 1A Pharma. Doch die Alternative sei, ganz vom Markt zu gehen. Am Ende werde es der Markt entscheiden. Die Inflation schlage im pharmazeutischen Bereich nun einmal besonders zu. Wirkstoffe, Energie, Produktionsmittel wie Aluminium – und dabei kaum Möglichkeiten, die gestiegenen Kosten weiterzugeben.
Welche Lösung sieht Späth: Die Hersteller hätten schon seit Jahren gefordert, bei Rabattverträgen auf Mehrfachzuschläge zu setzen. Was aus seiner Sicht auch hilft: Wenn Politiker:innen vor Ort sehen, wie eine Mutter mit Säugling in der dritten Apotheke nach einem Fiebermittel fragt. „Sowas trägt. Das kann man nicht am Schreibtisch wegwischen.“
Hänel hat Zweifel. Sie kennt solche Besuche. Den Abgeordneten könne man aber nicht innerhalb einer Stunde den Mikrokosmos Apotheke erklären, „die müssten eigentlich 24 Stunden inklusive Notdienst vor Ort sein“. Sollten die Abgabeerleichterungen wirklich wegfallen, müsste sie aktuell zwei von drei Patient:innen zurück in die Praxis schicken, ist Hänel überzeugt.