Fragt man Apotheker Henrik Justus, geht es heute in Hamburg um nicht weniger als die Zukunft der Zytostatika-Herstellung in Apotheken. Die Privilegierte Rats-Apotheke in Uslar, die Hermann Rohlfs gehört und die von Justus mit geleitet wird, muss sich vor dem Landgericht Hamburg gegen Novartis und Bayer verteidigen, weil sie im Rahmen von Rezepturen Lucentis (Ranimizumab) und Eylea (Aflibercept) ausgeeinzelt hat. Aus Sicht der Pharmakonzerne braucht es für die ausgeeinzelten Präparate allerdings eine Zulassung.
Nach deutschem Recht scheint die Rechtslage eindeutig: Für Rezepturen brauchen Apotheken laut Arzneimittelgesetz (AMG) keine Zulassung – schließlich ist genau das Sinn und Zweck einer Rezeptur. Aus diesem Grund gibt es auch in der EU-Richtlinie zu Humanarzneimitteln 2001/83/EG eine Ausnahme für Medikamente, die in Apotheken nach ärztlicher Verschreibung für einen bestimmten Patienten zubereitet werden.
Allerdings kommt aus der EU auch die Verordnung 726/2004 für die Genehmigung und Überwachung von Humanarzneimitteln. Darin ist geregelt, dass bestimmte Präparate – darunter etwa solche, die monoklonale Antikörper enthalten oder mit der Technologie der rekombinierten DNS hergestellt werden – eine Zulassung brauchen. Von einer Ausnahme für Rezepturen ist in dieser Verordnung, die unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gilt, keine Rede.
Die erste Frage ist also, ob die EU-Verordnung über der EU-Richtlinie steht oder andersherum – ob also Apotheken Zubereitungen mit solchen Präparaten weiterhin ohne Zulassung herstellen dürfen. Oder ob es für solche Rezepturen künftig eine Zulassung bedarf.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich 2013 bereits mit einer ähnlichen Frage beschäftigt. Damals hatte Novartis gegen den Kölner Herstellbetrieb Apozyt geklagt, der nicht nur Lucentis, sondern auch Avastin (Bevacizumab) auseinzelte. Laut AMG dürfen Herstellbetriebe Arzneimittel für Apotheken „in unveränderter Form“ abfüllen. Der EuGH entschied entsprechend, dass eine Zulassung für die umgefüllten Spritzen dann nicht erforderlich ist, wenn die Umfüllung nicht zu einer Veränderung des Arzneimittels führt und nur auf Grundlage individueller Verordnungen vorgenommen wird.
Die Sache schien klar zugunsten der Aposan-Tochter Apozyt auszugehen. Allerdings entschied das Landgericht Hamburg im Januar 2014, dass die Weiterverarbeitung von Lucentis eine Veränderung des Ausgangsprodukts darstellt. Somit seien die ausgeeinzelten Spritzen nicht von der zugrunde liegenden Zulassung gedeckt.
Die Richter erklärten, der Begriff der Veränderung sei „weit zu verstehen“ und umfasse neben Änderungen der Substanz oder des Wirkstoffs auch Änderungen bei Dosierung, Darreichungsform, Anwendung und Haltbarkeit. Im Fall der ausgeeinzelten Lucentis-Spritzen ging es um die Art der Spritzen, die Lagerung und die Änderung des Haltbarkeitsdatums.
Justus kritisiert, dass zahlreiche Fertigarzneimittel nicht für den mehrmaligen Gebrauch zugelassen seien – etwa Avastin, Vectibix, Herceptin und Perjeta. Sie dürften nach Auslegung des Gerichts nur dann mehrmals verwendet werden, wenn die Apotheker nachweisen können, dass sich durch die Zubereitung das Medikament nicht verändert.
Schon die von den Kassen vorgegebene Restmengenverwertung ist laut Justus damit in Gefahr: „Wenn der Nachweis, dass schon das bloße Umfüllen in eine Spritze zu keinen Änderungen führt, schon juristisch geklärt werden muss, wie soll dann erst der Nachweis für das Mischen mit einer Infusionslösung erfolgen?“
Der Streit zwischen Apozyt und Novartis geht nun in die zweite Instanz, eine Entscheidung steht noch aus. Bis dahin haben sich die Unternehmen darauf verständigt, dass Ranibizumab zunächst nicht mehr ausgeeinzelt wird. Novartis hat inzwischen auch eine neue, als Fertigarzneimittel zugelassene Lucentis-Fertigspritze auf den Markt gebracht.
Trotz der – vorläufigen – Schlappe für Apozyt ist Justus optimistisch, was sein eigenes Verfahren gegen die Pharmariesen angeht. Mut schöpft er aus einer weiteren EuGH-Entscheidung aus dem Juli. Das schwedische Unternehmen Abcur hatte gegen zwei schwedischen Apothekenketten geklagt, die aus dem ehemaligen Staatsbetrieb Apoteket hervorgegangen waren. Bevor Abcur Präparate mit Methadon und Noradrenalin auf den Markt gebracht hat, vertrieben die Apotheken entsprechende nicht zugelassene Zubereitungen aus dem staatlichen Apoteket-Labor – und taten das auch weiterhin.
Der EuGH gab zwar dem Unternehmen recht, stellte in seiner Urteilsbegründung aber klar: Arzneimittel fallen dann unter die Ausnahmeregelung, „wenn ihre Zubereitung speziell für einen vorher bekannten Patienten gemäß einer ärztlichen Verschreibung erfolgt, die vor der Zubereitung ausgestellt wurde“. Außerdem müssten sie „von der Apotheke, von der sie zubereitet worden sind, unmittelbar an die Patienten abgegeben werden“.
Die Pharmakonzerne werfen der Rats-Apotheke vor, mit der Rezepturherstellung in industrielle Maßstäbe abzugleiten. In den USA war vor drei Jahren eine öffentliche Debatte über die Sicherheit von Sterilrezepturen entbrannt, nachdem 64 Patienten infolge einer verunreinigten Sterilrezeptur aus dem „New England Compounding Center“ (NECC) verstorben und 750 weitere waren an Meningitis, Rücken- oder Gelenkinfektionen erkrankt waren. Wegen des niedrigeren Preises und der häufigen Lieferausfälle der Originalhersteller hatte sich ein eigenständiger Geschäftszweig entwickelt: Weitgehend unreguliert produzierten Apotheken und Herstellbetriebe im industriellen Maßstab und verschickten ihre Ware auch in andere Bundesstaaten. In der Folge des NECC-Skandals waren die Auflagen massiv verschärft worden; viele Apotheken hatten die Herstellung danach aufgegeben. Die Nachfrage bei großen Herstellbetrieben stieg extrem an.
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