Spahn testet vor Ort: Lebenszyklus eines ungültigen E-Rezepts Hagen Schulz, 08.12.2019 08:17 Uhr
Telemedizin funktioniert – und das, ohne bestehende Institutionen wie die Apotheke vor Ort überflüssig zu machen. Davon wollte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Freitag in Halle an der Saale überzeugen. Dort stellte die Hallesche Wohnungsgenossenschaft Freiheit ihr Modellprojekt „Haendel II“ der Öffentlichkeit vor. Unter anderem ließ Spahn per Videoschaltung seinen Blutdruck messen. Außerdem wurde ein E-Rezept für eine Testperson ausgestellt und in der nahegelegenen Niemeyer-Apotheke eingelöst. Inhaberin Ursula Gütle bewertet das Modellprojekt als nicht zu Ende gedacht, steht technischen Neuerungen aber offen gegenüber.
Es wurde eng im Wohnzimmer von Siglinde und Norbert Neumann: Spahn, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff und Medienvertreter drängten sich in die Genossenschaftswohnung des betagten Ehepaares. Die Neumanns demonstrierten, wie Haendel II funktioniert – und wie die Zukunft mit Telemedizin und E-Rezept aussehen könnte: Über ein Tablet konsultierte Neumann den Allgemeinmediziner Dr. Daniel Holzapfel. Nur zu Demonstrationszwecken, versteht sich, auch wenn der Puls des Rentners aufgrund des Auflaufs in seinem Wohnzimmer leicht erhöht war.
Neumann ist völlig gesund, doch da sich die Gäste von der Funktionsweise von Haendel II überzeugen sollten, stellte Holzapfel ein Rezept aus. Mit etwas Verzögerung – Verbindungsstörungen scheinen noch ein ungelöstes Problem zu sein – erschien die ärztliche Verordnung auf dem Handy des Seniors. Zu Fuß ging es über die Straße in die Niemeyer-Apotheke. Dort präsentierte Neumann das in einem QR-Code verpackte Rezept, die Apothekerin scannte es ein und am PC zeigte sich, was der Arzt da verschrieben hatte.
Abgeben dürfte Gütle das entsprechende Medikament jedoch nicht, dafür fehlen dem Modellprojekt die rechtlichen Grundlagen. „Es ging eher darum zu zeigen, was theoretisch möglich ist“, erklärt die Apothekerin. „Ich hatte eher die Hoffnung, dass ein richtiges Projekt kommt. Nun ist es dafür wohl zu spät“, so die Inhaberin. Sie gehe davon aus, dass Modellprojekte dieser Art in Zukunft vom E-Rezept überholt und damit überflüssig gemacht werden. Die digitale Rezeptübertragung sieht Gütle dabei keinesfalls negativ: „Das ist eine gute Ergänzung unserer Leistungen, wenn die Basis geschaffen wird, dass alle auf gleichem Wege daran teilnehmen können.“
Die technischen Voraussetzungen in ihrer Apotheke seien bereits da. „Das ist auch alles kein Hexenwerk und nichts, wovor sich unser Berufsstand fürchten müsste“, zeigt sich die Apothekerin gelassen. Jedoch dürfe der Technik nicht blind vertraut werden. „Manchmal braucht es eben einen Plan B. Und da wäre es nicht schlecht, die Option über den Papierweg weiter offen zu halten“, spielt Gütle auf die Verbindungsprobleme an, die während der Präsentation auftraten. Gerade auf dem Land könne noch nicht von jederzeit stabilen Internetleitungen ausgegangen werden.
Das musste auch Spahn feststellen. Obwohl Halle mit gut 200.000 Einwohnern eine große Stadt ist, musste eine Telesprechstunde des Gesundheitsministers mit einem zugeschalteten Arzt abgebrochen werden. Zwar konnten Spahns Blutdruck gemessen und seine Daten an den Mediziner übermittelt werden. Die Auswertung scheiterte jedoch daran, dass die Verbindung zum Arzt plötzlich abbrach. Spahns Videosprechstunde war Teil des Besuchs des Gesundheitsministers bei der Halleschen Wohnungsgenossenschaft. Nachdem der Leiter der Arbeitsgruppe Haendel II, Dirk Neumann, die Gäste um Spahn und Haseloff im genossenschaftseigenen Wohnblock begrüßt hatte, fanden die Telemedizin-Demonstrationen mit dem Minister und der Testfamilie statt.
Trotz der technischen Schwierigkeiten zog Neumann ein positives Fazit: „Wir haben in unserem Mikrokosmos gezeigt, dass Telemedizin funktioniert.“ Spahn lobte die Vorführungen ebenfalls: „Das ist etwas, was man gesehen haben muss, und genau das, wo wir in Zukunft hinwollen.“ Haseloff ergänzte: „Ohne Telemedizin geht es nicht. Es ist unsere Aufgabe, das jetzt auf die Fläche zu bringen. Dafür braucht es die Bereitschaft aus der Bevölkerung. Aber die ist absolut da, wenn die Menschen einen Mehrwert sehen.“
Haseloff erklärte, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung in seinem Bundesland am höchsten sei. „Deswegen haben wir den Druck und die Pflicht, die Lebensqualität der alternden Gesellschaft mit solchen Projekten nach vorne zu bringen.“ Deswegen werde Haendel II fortan vom Nachfolgeprojekt Haendel III abgelöst, Haseloff bleibt weiter Schirmherr des Modellprojekts. „Hier geht es darum, das autonome Wohnen auszubauen und auf andere Bereiche des Lebens auszuweiten“, erklärte Kay Nitschke von der AOK Sachsen-Anhalt, die Haendel III ebenfalls unterstützt.
Das Rentnerehepaar Neumann steht den Plänen offen gegenüber. „Das ist alles ganz einfach zu bewältigen und komfortabel für uns“, schätzt Neumann die technischen Möglichkeiten sehr. Auch der Datenschutz mache ihm keine Sorgen, schließlich müsse er bei jeder ärztlichen Konsultation und jeder Datenübermittlung erst sein Einverständnis geben. Gütle sieht ebenfalls großes Interesse der Bevölkerung in Sachen Telemedizin und E-Rezept. „Die Leute finden gut, was da passiert“, berichtet die Apothekerin.
Dass die digitalen Hilfsmittel die Apotheke vor Ort überflüssig machen, glaubt sie jedoch nicht. „Am E-Rezept wird kein Weg vorbeifahren. Aber es kann ein Gewinn für uns sein und Fehlerquellen minimieren. Viele Dinge, die uns im Alltag jetzt noch piesacken, kommen dann nicht mehr vor“, ist die Inhaberin überzeugt. „Aber nicht alles lässt sich digital besprechen. Bei manchen Problemen braucht es eben eine ausführliche Beratung. Und wo sonst kann man sich schon mal die Zeit nehmen, in Ruhe miteinander zu reden, als in der Apotheke“, glaubt Gütle fest daran, dass die Vor-Ort-Apotheke weiter notwendig bleibt.
Dass Haendel II in den theoretischen Kinderschuhen stecken blieb, irritiert die Inhaberin. „Das Modellprojekt hört ja da auf, wo der Patient den QR-Code auf sein Handy kriegt. Von dort an fehlt die rechtliche Basis“, verrät Gütle. „Man hätte dort mehr Mühe hineinstecken müssen. So ist einfach nur ein Projekt, wie es das schon in Hamburg oder Berlin gab.“ Da komme schon die Frage auf, warum es noch einen weiteren Modellversuch gebraucht habe, so die Apothekerin.
Die Inhaberin der Niemeyer-Apotheke zeigt sich für potenzielle Neuerungen offen: „Wir müssen die technischen Möglichkeiten nutzen und zukunftsgewandt vorangehen.“ Sie sei zu allen Schandtaten bereit, scherzt die Apothekerin. Haseloff pflichtet ihr bei: „Wir haben noch einen weiten Weg zu gehen. Ziel ist natürlich, jedes Rezept auf einheitlichem Wege zum Patienten zu bringen.“ Diese Einheitlichkeit sieht auch Gütle als springenden Punkt: „Schwierigkeiten bekommen wir dann, wenn wir auf unterschiedlicher Basis agieren.“
Mit dem Ende von Haendel II und dem Beginn von Haendel III endet der Modellversuch für die Apothekerin zunächst. Es werden also auch weiterhin keine gültigen E-Rezepte per QR-Code in ihrer Niemeyer-Apotheke eingelöst. Spahn dürfte sich nach seinem Besuch in Halle in seinen Plänen jedoch bestätigt sehen: „Läuft im Grunde doch alles ganz easy“, freute sich der Politiker, als er Neumann das Test-Rezept in der Apotheke einlösen sah. Mit einer Tempodrosselung beim E-Rezept ist also nicht zu rechnen. „Herr Spahn wird hier weiter ordentlich PS auf die Straße bringen“, ist auch Gütle überzeugt.