25.000 Impfungen – doch es reicht nicht

Schittenhelm: „Die vierte Welle haben wir verkackt“

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Berlin -

Apotheker Dr. Björn Schittenhelm kämpft weiter mit außergewöhnlichem Engagement gegen die Pandemie: Vom ersten bis zum dritten Advent veranstaltet er jedes Wochenende einen neuen Impfmarathon, 7174 Impfungen hat er allein gestern und vorgestern verabreichen lassen. Doch es hat sich etwas verändert – auch Schittenhelm geht mittlerweile auf dem Zahnfleisch. „Die vierte Welle haben wir verkackt“, sagt er offen und ehrlich.

Manchmal sind es kleine Nebensächlichkeiten, die den Ernst der Lage am eindrücklichsten verdeutlichen. Wer Schittenhelm kennt, weiß um sein Wesen: Selbst im größten Stress strahlt er vor positiver Energie, denkt Probleme immer von der Lösung her. Davon ist im Moment rein gar nichts zu spüren. „Ich bin zum ersten Mal in dieser Pandemie demoralisiert. Ich sehe kein Licht mehr am Ende des Tunnels“, sagt er. Dabei ist er so aktiv wie eh und je: Seine Testzentren laufen auf Hochtouren und er lässt weiterhin auch mit Hochdruck impfen. Allein beim Sindelfinger Impfmarathon ließ er 48 Ärzte aufmarschieren, die in vier Schichten an zwei Tagen wie am Fließband geimpft haben. Und die nächsten beiden Wochenenden liegen weitere Impfmarathons an.

Zustande gekommen waren die Marathons durch die Stadtverwaltung von Sindelfingen, die mit dem Anliegen auf Schittenhelm zuging. Bereits im September hatte er nämlich angefangen, in seinen Testzentren auch impfen zu lassen. Gemeinsam mit der ärztlichen Leiterin des Impfzentrums in Sindelfingen, Dr. Martina Burchert-Graeve, hatte Schittenhelm ein Modell aufgesetzt, bei dem die Ärzte des Impf- in seinen Testzentren Immunisierungen durchführen.

Das lief im Oktober langsam an und ist seit dem Run auf die Booster-Impfungen durch die Decke gegangen, wie er berichtet: „Das ist aus allen Nähten geplatzt, wir haben immer mehr Ärzte, gleichzeitig aber auch lange Schlangen. Die Nachfrage ist riesig und die Termine gehen sofort weg.“ Zwischen 20.000 und 25.000 Impfungen seien in seinen Zentren bisher durchgeführt worden, das Gros davon im November.

Die Zahlen sehen also gut aus, zumindest auf den ersten Blick. „Das ist alles viel zu spät und ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Schittenhelm. „Der Landkreis Böblingen steht noch recht gut da, weil wir unsere Infrastruktur für Tests und Impfungen nur auf Hold gestellt hatten und jetzt recht schnell wieder hochfahren können. Aber auch wir haben mittlerweile eine Inzidenz von 500 gerissen.“

Das merke er deutlich auch in seinen Testzentren: Die Positivbefunde seien in den vergangenen Tagen durch die Decke gegangen. „Bei uns stapeln sich die Befunde“, sagt er. „Wir haben hier zum Teil welche liegen, die eine Woche alt sind.“ Die Patienten würden natürlich sofort digital informiert, falls sie positiv sind, aber würden dann natürlich auch das physische Dokument haben wollen. „Aber wir kommen nicht mehr hinterher. Eigentlich müssten wir drei Bürokräfte einstellen, um das abzuarbeiten. Wir haben die weiße Fahne gehisst, es kommt mehr Arbeit rein als wir wegschaffen können."

Was ihn dabei besonders bedrücke, sei die Entwicklung der Zahlen: Bisher habe er immer eine recht gute Abschätzung aus dem aktuellen Testgeschehen abgeben können. „Wir sind immer ein paar Tage vor den Zahlen des Robert Koch-Instituts gewesen, denn die müssen ja erst noch gemeldet und verarbeitet werden“, erklärt er. Eine so dramatische Entwicklung wie im Moment habe er aber vorher noch nie wahrgenommen – anhand der Befunde der vergangenen Tage gehe er davon aus, dass bald die Marke von 100.000 Neuinfektionen am Tag geknackt werden wird. „Und die Positiven von heute sind die Toten in vier oder sechs Wochen.“

Und es passiere: so gut wie nichts. Die Politik fühlt sich – wenn überhaupt – nur zu kleinen Schritten bewogen. Und auch lokale Initiativen wie seine Impfmarathons ändern nicht mehr viel an der akuten Situation. „Bisher boostern wir praktisch nur, die Zahl der Erst- und Zweitimpfungen bleibt weiter lächerlich gering.“ Selbst wenn man in den kommenden Tagen eine erhebliche Steigerung der Erstimpfungsquote erreichen würde, wären diese Menschen in frühestens sechs bis acht Wochen immunisiert – am anderen Ende des Winters.

„Man muss es so sagen, wie es ist: Die vierte Welle haben wir komplett verkackt. Wir kämpfen hier bereits gegen die fünfte Welle“, sagt er. Denn dass die kommen werde, davon gehe er aus: „Das Einzige, was jetzt noch hilft, ist ein radikaler Lockdown und dann wird es genauso laufen wie bei der zweiten Welle, dass wir zu früh aufmachen und die Zahlen dann nach wenigen Wochen wieder steigen.“ Gerade deshalb sei es dennoch notwendig, die Impfgeschwindigkeit weiter zu erhöhen. Das Zeitfenster, um die Katastrophe noch abzuwenden, sei zwar längst geschlossen, aber man müsse dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen für die kommenden Monate zu schützen.

Die Lokalpolitik tue weiter, was sie kann, könne die falschen Entscheidungen auf Bundes- oder Landesebene aber auch nicht mehr ausbügeln. „Es war ein riesiger Fehler, gleichzeitig die Impfzentren zu schließen und die Testmöglichkeiten einzuschränken. Die Doppelbelastung aus Impfen und Testen können wir kaum stemmen“, sagt Schittenhelm. Nun renne man der Situation nur noch hinterher. „Ich habe in der ganzen Pandemie noch nie so schwarzgesehen wie jetzt. Ich arbeite noch mehr und noch härter als vor einem Jahr, aber es geht mir wie Don Quijote. Natürlich wird es irgendwann im Frühjahr besser werden, aber bis dahin wird es noch sehr viel Leid und Tod geben.“

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