Rezeptgutscheine: Kein Vorsatz, keine Strafe Patrick Hollstein, 24.10.2018 10:14 Uhr
Regeln sind da, um gebrochen zu werden – für die einen ein lockerer Spruch, für die anderen unternehmerisches Leitmotiv. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) hat Rx-Boni jetzt noch einmal ohne jede Ausnahme für unzulässig erklärt – zwei Apotheker jedoch, weil sie es seinerzeit nicht besser wissen konnten, im berufsgerichtlichen Verfahren freigesprochen. Nach den umfangreichen Ausführungen der Richter kann niemand dafür bestraft werden, dass die Rechtslage unklar ist.
im September 2010 entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass Rx-Boni unterhalb einer gewissen Bagatellgrenze wettbewerbsrechtlich nicht anzugreifen sind. Das Urteil sorgte für vorübergehende Verwirrung, später stellte der Vorsitzende Richter Professor Dr. Joachim Bornkamm im Interview mit APOTHEKE ADHOC klar, dass sämtliche Verstöße gegen die Preisbindung berufsrechtlich geahndet werden können.
Zu diesem Zeitpunkt hatten alleine in Berlin acht Apotheken damit begonnen, ihren Kunden Gutscheine auf Rezept zu spendieren, darunter mehrere Elac- und Easy-Apotheker. Die Kammer rügte das Verhalten und sprach Verwarnungen aus. Gegen mindestens drei Apotheker wurden außerdem Geldbußen verhängt.
Einer von ihnen war Dr. Axel Müller-de Ahna. Der Inhaber der Wedding-Apotheke hatte im Herbst 2010 in allen drei Filialen Wertgutscheine für die Rezepteinlösung verteilt. In einer Zeitungsanzeige hatte er für das Angebot geworben: „Beim Einlösen Ihres Rezeptes erhalten Sie bei uns einen Wertgutschein von 1 €“, hieß es da. Abgebildet waren ein Rezept und der Gutschein mit dem Aufdruck einer Münze und dem Text: „Gegen Abgabe des Gutscheins werden Ihnen beim nächsten Einkauf vergütet: 1 Euro, keine Barauszahlung.“
Die Kammer verband ihre beiden Bescheide mit der Auflage, insgesamt 7500 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen. Den Einspruch des Apothekers wies der Vorstand ab. Müller-de Ahna zog vor Gericht – und hatte Glück, dass er das berufsgerichtliche Verfahren überhaupt führen konnte: Gleich zweimal hatte er nämlich die erforderlichen Fristen versäumt, doch beide Male kam ihm Schludrigkeit auf der anderen Seite zu Hilfe: Zunächst hatte die Kammer in ihrer Rechtsmittelbelehrung den Hinweis auf das Berufsgericht vergessen, bei der Berufung hatte dann die Richterin eigenmächtig die Frist verlängert – was sie nicht gedurft hätte, was aber laut OVG nicht zum Nachteil des Apothekers ausgelegt werden durfte.
Wie schon zuvor das Berufsgericht sah auch das OVG die Aktion als eindeutigen Verstoß gegen die Berufspflicht nach Kammergesetz sowie gegen die Berufsordnung. „Nicht erlaubt sind insbesondere das Abgehen von Vorschriften über Preise für verschreibungspflichtige Arzneimittel, insbesondere das Gewähren von Rabatten oder sonstigen Preisnachlässen auf diese Arzneimittel und die Werbung hiermit.“
Diese Vorgabe sei nicht auf Barrabatte beschränkt, sondern schließe ein Verbot von Gutscheinen ein, heißt es im Urteil: „Denn ‚abgehen‘ steht nach dem Sprachgebrauch für Formulierungen wie ‚abweichen‘, ‚eine eingeschlagene Richtung verlassen‘, ‚sich von etwas entfernen‘, ‚sich von etwas lösen‘, ‚verschieden sein‘, oder ‚sich unterscheiden‘“, zählen die Richter auf. Ein „Abgehen“ von einem Preis könne in verschiedenen Formen geschehen, beispielsweise wenn der der Preisforderung eine Vergünstigung in Form eines Wertgutscheins gegenübergestellt werde.
Nach diesem Exkurs in die Etymologie wird es konkreter: So würden in der Berufsordnung neben Rabatten explizit „sonstige“ Preisnachlässe genannt – für die Richter ein wichtiger Hinweis, dass auch Umgehungsmodelle ausgeschlossen werden sollen.
Der „centgenaue Abgabepreis“ habe den Zweck, die flächendeckende und gleichmäßige Versorgung sicherzustellen und einen ruinösen Preiswettbewerb zu verhindern – und zwar unabhängig von einer konkreten Gefährdungslage vor Ort: „Der Gesetzgeber der arzneimittelrechtlichen Preisbindungsvorschriften ist davon ausgegangen, dass jede gesetzlich verbotene Abweichung vom Apothekenabgabepreis für verschreibungspflichtige Arzneimittel geeignet ist, Auslöser für einen die Versorgungssicherheit gefährdenden Preiswettbewerb zu sein. Einer entsprechenden Entwicklung soll schon am Beginn, also bereits vor einer Veränderung der Preiswettbewerbssituation, entgegengewirkt werden, ohne dass es bereits zu konkreten Gefährdungen gekommen ist.“
Daher sei es auch ohne Belang, ob eine konkrete Gefährdung der Versorgung – wie von Müller-de Ahna behauptet – wegen der im Umfeld seiner Apotheken bestehenden hohen Apothekendichte auszuschließen sei. „Zum einen kann die wirksame Durchsetzung der Arzneimittelpreisbindung nicht von regionalen Unterschieden in der konkreten Apothekendichte abhängig gemacht werden. Zum anderen ist es gerade diese hohe Anzahl von Apotheken, die nach allgemeiner Erfahrung einen erhöhten Wettbewerb zu Folge hat. Durch die arzneimittelrechtliche Preisbindung soll insofern der einzelne Apotheker davor geschützt werden, aufgrund eines faktischen Zwanges Rabatte und/oder Zugaben auch im Bereich rezeptpflichtiger Arzneimittel zu gewähren, um auch hier im Wettbewerb bestehen zu können.“
Eine Bagatellgrenze wie im Wettbewerbsrecht gibt es laut OVG im Berufsrecht nicht. Laut Gericht sind die unterschiedlichen Regelungsbereiche – Wettbewerbsrecht einerseits, Arzneimittel- und Heilmittelwerberecht und daran anknüpfend Berufsrecht andererseits – mit ihren jeweiligen Zielrichtungen getrennt voneinander zu betrachten. Dass Rainer Auerbach als Geschäftsführer der Kammer im Juni 2009 auf der Website selbst entsprechende Andeutungen gemacht habe, sei bedeutungslos, da es sich um eine reine Meinungsäußerung ohne Autorisierung der Delegiertenversammlung gehandelt habe.
Die arzneimittelrechtliche Preisbindung ist laut Gericht schon dann gefährdet, wenn jeder Kunde pro Rx-Medikament einen Gutschein von nur einem Euro erhält. Der Gutschein sei aus Sicht des Kunden fast wie Bargeld und diene einer langfristigen Kundenbindung. „Wegen der Vorteile ist diese Zuwendung besonders werbewirksam. Verbreitet sich diese Werbemethode und werden die Vorschriften zur Preisbindung vielfach unterlaufen, so ist bei einer Gesamtbetrachtung ihr Zweck gefährdet. Ruinöser Wettbewerb und die Verdrängung von Apotheken können die Folge sein.“ Bei der berufsrechtlichen Ahndung gehe es letztlich darum, „die Einhaltung der Preisbindung flächendeckend zu gewährleisten und einen Nachahmungseffekt mit weitreichenden Folgen auszuschließen“.
Eine isolierte Betrachtung von Erst- und Zweitgeschäft sei unrealistisch und lebensfremd, so die Richter weiter: Verbraucher seien in der Lage, den Vorteil zu erkennen, auch wenn er ihnen erst beim nächsten Einkauf gewährt werde. Dies führe zu einer unsachgemäßen Beeinflussung, die laut Heilmittelwerbegesetz (HWG) aber verhindert werden solle.
Die Richter sahen weder einen Verstoß gegen die Berufsausübungsfreiheit noch gegen EU-Recht. Selbst das EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 habe keine Implikationen, da es „schon an einer Ungleichbehandlung durch denselben Normgeber fehlt und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Gesetzgeber nur verpflichtet ist, in seinem eigenen Herrschaftsbereich den Gleichheitssatz zu wahren“.
Nachdem der rechtliche Rahmen umfassend aufgearbeitet wurde, folgt ganz am Schluss die große Überraschung: Anders als das Berufsgericht kann das OVG nicht erkennen, dass Müller-de Ahna seinerzeit wusste, dass er gegen die Preisvorschriften verstieß – und dies obwohl der BGH bereits entschieden hatte. „Die vollständigen Gründe dieser Urteile konnten dem Beschuldigten vor und während der Werbeaktionen nicht bekannt sein, weil sie noch nicht veröffentlicht waren.“
Dass Müller-de Ahna den Newsletter der Apothekenkammer abonniert hatte und damit entsprechende Informationen erhalten habe, sei nicht nachgewiesen. Dasselbe gelte gilt für die Pressemitteilung des BGH sowie das Interview von APOTHEKE ADHOC mit Bornkamm. „Dass der Beschuldigte diese Informationen kannte, lässt sich nicht ansatzweise nachvollziehen; er war auch nicht verpflichtet, sich diese Informationen zu beschaffen.“
Nach der von ihm verfolgten – und laut Gericht nicht zwischen der wettbewerbs- und der arzneimittelrechtlichen Zulässigkeit differenzierenden – Presseberichterstattung durfte Müller-de Ahna vor und während seiner Werbeaktionen davon ausgehen, dass Rx-Boni als wettbewerbsrechtlich zulässig zu erachten waren.
Dieser Eindruck musste laut Urteil durch eine Kommentierung der Kammer zur Berufsordnung verstärkt werden, in der Auerbach darauf hingewiesen habe, dass die Rechtsprechung des BGH abzuwarten sei. „Auch mit Blick auf diese Bemerkung, die eine ‚wettbewerbsrechtliche‘ Auslegung […] nahelegt, konnte der Beschuldigte im (jeweiligen) Begehungszeitpunkt annehmen, dass sein von ihm beworbenes Preismodell aus wettbewerbsrechtlicher Hinsicht mit den Preisbindungsvorschriften vereinbar ist.“
Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt wegen der seinerzeit angesichts divergierender Entscheidungen von Oberlandesgerichten noch ungeklärten Rechtslage sei jedenfalls nicht erkennbar, dass sich dem Apotheker die Verletzung einer Berufspflicht erschlossen hat.
Das Urteil ist rechtskräftig und markiert in den Schlussstrich des langen Streits. Ebenfalls zu einer Geldbuße von 5000 Euro verdonnert wurde seinerzeit Elac-Gründer Rolf Spielberger; das Verfahren wurde allerdings nach seinem Tod im Mai 2016 eingestellt. Easy-Apotheker Alexander Irrgang sollte 2000 Euro zahlen – er wurde jetzt mit derselben Begründung freigesprochen wie sein Kollege aus dem Wedding.
Irrgang hatte eigentlich die Zahlung einer Spende akzeptieren wollen, doch am Morgen des Gerichtstermins sei er plötzlich informiert worden, dass der Vorstand der Kammer dies am Vorabend überraschend abgelehnt habe, berichtet er. So stand er im Pullover und ohne seinen Anwalt Moritz Diekmann vor Gericht; Müller-de Ahnas Anwalt Dr. Morton Douglas durfte ihn dann kurzfristig mit vertreten. Irrgang ist froh, dass sich das Gericht so ausführlich mit der Sache beschäftigt und ihn und seinen Kollegen freigesprochen hat. Immerhin habe er die Boni sofort eingestellt, als die Rechtslage klar gewesen sei.