Retaxationen

Barmer: Großangriff auf Apotheken

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Berlin -

Wildwest bei der Barmer: Aus ganz Deutschland melden sich Apotheker, die von Nullretaxationen in der Akutversorgung betroffen sind. Sie sind sauer und sehen die Versorgung der Patienten in Gefahr. Die Krankenkasse beharrt auf ihrem Recht und verweist auf den Rahmenvertrag – ohne sich selbst daran zu halten.

Ein Apotheker aus dem Odenwald hatte eine behinderte Patientin, die eine neue Niere erhalten hatte, mit einem Calcitriol-Präparat versorgt. Das Medikament war von der Uniklinik verordnet worden. Für die Kundin war es unmöglich, zurück in die Klinik zu fahren und ein neues Rezept anzufordern. Der Rabattpartner Dekristol war nicht lieferfähig, auch alle anderen Anbieter waren ausverkauft. Der Apotheker war froh, dass er die Frau mit dem einzigen lieferbaren Arzneimittel des Herstellers Kyramed beliefern konnte. Umso mehr ärgerte er sich, dass er trotz Sonder-PZN und sauberer Dokumentation auf Null retaxiert wurde.

Im Rahmenvertrag ist für solche akuten Fälle eine Ausnahme von der Austauschpflicht vorgesehen. Und diese legte die Barmer derzeit besonders penibel und realitätsfremd aus. Verzögerungen der Therapie werden billigend in Kauf genommen.

Wörtlich heißt es unter den Vorgaben zur Auswahl preisgünstiger Arzneimittel: „Ist ein rabattbegünstigtes Arzneimittel in der Apotheke nicht verfügbar und macht ein dringender Fall die unverzügliche Abgabe eines Arzneimittels erforderlich (Akutversorgung, Notdienst), hat die Apotheke dies auf der Verschreibung zu vermerken, das vereinbarte Sonderkennzeichen aufzutragen und ein Arzneimittel nach den Vorgaben des Absatzes 4 abzugeben.“

Darauf bezieht sich die Barmer: „So etwas wie den ‚Preisanker‘ gibt es nicht. Ist im Rahmenvertrag zwischen Kasse und Apotheke eine rabattbegünstigte Alternative zur verordneten Arznei (aut idem) vereinbart, so muss diese auch abgegeben werden“, teilt ein Sprecher der Kasse auf Nachfrage mit.

Könne das rabattbegünstigte Arzneimittel nicht beliefert werden, greife Absatz 4 aus § 4 des Rahmenvertrags: „Demnach stehen die drei preisgünstigsten Arzneimittel, gegebenenfalls das namentlich verordnete oder ein wirtschaftlicher Import zur Auswahl und können auch vertragskonform mit der Krankenkasse abgerechnet werden. Der akute Fall ist keine Begründung, abweichend von der vertraglichen Vereinbarung ein beliebiges Arzneimittel abzugeben.“

Mit anderen Worten: Sind weder das Rabattpräparat noch die vorgesehenen Alternativen lieferbar, muss der Patient zum Arzt zurück und sich das verfügbare Produkt mit Auti-idem-Kreuz verordnen lassen. Mehr Zynismus geht nicht: Laut Barmer kann es in dieser Konstellation keinen dringenden Fall geben – genauso wenig übrigens wie eine Nichtlieferbarkeit. Denn auch dann gilt die Regel der preisgünstigen 3. Was auch immer für den Deutschen Apothekerverband (DAV) der Grund ist, solche Verträge zu schließen: Die Barmer sieht sich im Recht.

Auch die Nullretaxation ist aus Sicht der Kasse gerechtfertigt: „Eine Vollabsetzung erfolgt, wenn gegen die Vereinbarungen zur Arzneimittelauswahl im Rahmenvertrag verstoßen wird, denn in diesem sind alle Lieferberechtigungen und -verpflichtungen geregelt.“ Nachzulesen im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG): „Den Apotheker trifft die Pflicht, ordnungsgemäß vertragsärztlich verordnete Arzneimittel nur im Rahmen seiner Lieferberechtigung an Versicherte abzugeben.“

Verletzt er diese Pflicht, ist dies sein Risiko: „Die Krankenkasse muss für nicht veranlasste, pflichtwidrige Arzneimittelabgaben nichts zahlen.“ Missachten Apotheker Rabattverträge, können die Kassen also den kompletten Betrag retaxieren. Die Vollabsetzung ist laut Barmer demnach „selbstverständlich zulässig“, der Auszug aus dem Urteil „unmissverständlich“.

Dass mit dem Retax-Deal Nullretaxationen nur noch bei schweren Verstößen rechtmäßig sein sollten, ficht die Barmer nicht an. Aus ihrer Sicht haben Apotheker ihre Austauschpflichten gröblich verletzt. Von einer Kürzung in Höhe der Preisdifferenz zum Beispiel zum drittgünstigsten Präparat hält die Krankenkasse nichts: Schließlich wisse man nicht, welches Arzneimittel man zur Berechnung heranziehen müsse, hieß es aus der Verwaltung der Barmer.

Der Apotheker aus dem Odenwald kritisiert, dass er seine Patienten nur noch „krankenhausreif“ versorgen könne, ihm seien die Hände gebunden. Seine Mitarbeiter erklären den Kunden jetzt, dass sie sie nicht rechtzeitig versorgen können, da die Barmer ihr akut benötigtes Medikament nicht bezahlt.

Versorgt werden kann dann nur nach „Wunscharzneimittel“. Die Versicherten zahlen das Präparat in der Apotheke und bitten dann bei der Barmer um die Erstattung eines nicht näher definierten Teilbetrags.

Für den Apotheker ist das Nötigung und unterlassene Hilfeleistung seitens der Krankenkasse. Er selbst und viele seiner Angestellten sind bei der Barmer versichert. Die Kasse ist die einzige, die noch eine Geschäftsstelle in dem kleinen Ort habe. Bislang habe man sich unterstützt und zusammengearbeitet. Groß war die Enttäuschung nach der Vollabsetzung. Immerhin konnte der Geschäftsstellenleiter einlenken und die Retaxation abwenden. Nicht jeder betroffene Apotheker hat derzeit so viel Glück.

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