Retaxationen

Barmer: Im Zweifel kein Akutfall Lothar Klein, 26.06.2017 10:08 Uhr

Berlin - 

Bundesweit flattern Apothekern derzeit Nullretaxationen der Barmer ins Haus, weil sie angeblich in dringlichen Fällen nicht den Regeln entsprechend reagiert haben. Bei der Präsentation des Arzneimittelreports bot sich die Gelegenheit zur Nachfrage, was es mit der Retaxwelle auf sich hat. Vorstandschef Professor Dr. Christoph Straub wollte sich zu „Einzelfällen“ nicht äußern und ergriff die Flucht. Für ihn stellte ein Sprecher klar: „Bei der Bewertung von Notfallsituationen kommt es immer auf den Einzelfall an.“ Offenbar vertritt man in Wuppertal die Auffassung, dass nicht jeder Akutfall zu rechtfertigen ist.

Im Rahmenvertrag ist für akuten Fälle eine Ausnahme von der Austauschpflicht vorgesehen. Wörtlich heißt es unter den Vorgaben zur Auswahl preisgünstiger Arzneimittel: „Ist ein rabattbegünstigtes Arzneimittel in der Apotheke nicht verfügbar und macht ein dringender Fall die unverzügliche Abgabe eines Arzneimittels erforderlich (Akutversorgung, Notdienst), hat die Apotheke dies auf der Verschreibung zu vermerken, das vereinbarte Sonderkennzeichen aufzutragen und ein Arzneimittel nach den Vorgaben des Absatzes 4 abzugeben.“

Auf diesen Passus verweist die Barmer: „Demnach stehen die drei preisgünstigsten Arzneimittel nach Listenpreis, gegebenenfalls das namentlich verordnete oder ein wirtschaftlicher Import zur Auswahl und können auch vertragskonform mit der Krankenkasse abgerechnet werden.“

Nur wenn alle diese Möglichkeiten ausgeschlossen seien, könne in einem Notfall ein anderes, teureres Arzneimittel abgegeben werden, räumt die Barmer ein. Dass die Kasse in diesem Zusammenhang immer wieder von „Einzelfällen“ spricht, ist laut Spezialisten ein Zeichen, dass jeder Akutfall auf seine Plausibilität geprüft und gegebenenfalls in Frage gestellt wird: „Die Barmer will die Deutungshoheit, was als Akutfall gilt und was nicht.“ Das lässt sich zwar weder aus den gesetzlichen Vorschriften, noch aus dem Rahmenvertrag herauslesen – ist aber offenbar der Hintergrund für die aktuelle Retaxwelle.

Kommt beispielsweise ein Patient in einer Großstadt um 15 Uhr in eine Apotheke und die Versorgung ist dort nicht regelkonform möglich, wird es offenbar als zumutbar gesehen, dass der Patient eine andere Apotheke aufsucht. Die gleiche Lage in einem Dorf mit nur einer Apotheke wird von der Retaxstelle möglicherweise anders bewertet. Dort wäre eine Notfallversorgung wohl zulässig.

Auch das Arzneimittel spielt dem Beobachter zufolge eine wichtige Rolle. Notfälle gelten nach dieser Auslegung nur für Präparate, die der Patient unmittelbar einnehmen muss. Andernfalls droht bei einer Ersatzversorgung mit einem anderen Arzneimittel eine Retaxation. Tatsächlich sind bislang vor allem Kürzungen von Rezepten über Protonenpumpenhemmern (PPI) bekannt – bei Omeprazol & Co. glaubt die Kasse offenbar nicht an echte Akutfälle.

Auch wird anscheinend geprüft, ob er behandelnde Arzt eine neue Verordnung ausstellen kann. Hier spielt die individuelle Zumutbarkeit eine Rolle. Es gibt also erhebliche Auslegungsspielräume aus Sicht der Kasse. Der Einsatz der Sonder-PZN muss in jedem Einzelfall exakt begründet und nachvollziehbar sein. Verstößt die Abgabe gegen die Regeln, ist laut Barmer eine Nullrelaxation alternativlos.

„Die Diskussion eines Einzelfalles und die Prüfregularien gehören in das Verfahren der Rechnungsprüfung der Vertragspartner“, so ein Sprecher der Barmer. „Wichtig ist, dass der Geist der Vereinbarung mit dem DAV zur Substitution vertragspartnerschaftlich gelebt werden muss und dass dazu eine plausible Anwendung der Regularien gehört. Dies bedarf beidseitiger Akzeptanz der Regeln.“

Wie ein „dringender Fall“ zu interpretieren und wann die „unverzügliche Abgabe eines Arzneimittels erforderlich “ ist, ist im Rahmenvertrag nicht eindeutig geregelt. Beispielhaft sind Akutversorgung und Notdienst genannt. Die Apotheker interpretieren die Vorschrift im Sinne der Patienten, die Kassen haben möglicherweise eher eine Beschränkung auf echte Notfälle im Auge. Dass den Apothekern in den Retaxationen nicht einmal die Gelegenheit gegeben wurde, die Eilbedürftigkeit nachzuweisen, spricht eher für wirtschaftliche Motive.

Vor zwei Jahren hatten DAK Gesundheit und AOK Baden-Württemberg Apotheken retaxiert, die ihre pharmazeutischen Bedenken nicht ausreichend begründet hatten. Später wurden die Absetzungen zurückgenommen. Auch eine Absetzung wegen Abgabe eines nicht rabattierten Antibiotikums wurde rückgängig gemacht.