Die Apotheker erwägen den Gang nach Karlsruhe. Der Deutsche Apothekerverband (DAV) lässt derzeit eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundessozialgericht (BSG) zu Nullretaxationen prüfen. Aus Sicht des Apothekerverbands Westfalen-Lippe (AVWL) sollten die Apotheker es auf jeden Fall versuchen. Geschäftsführer Dr. Sebastian Schwintek erklärt, welche Angriffspunkte es gibt.
Das BSG hatte Nullretaxationen mit der Begründung erlaubt, dass Kassen für eine falsche Abgabe nichts zahlen müssten. „Wir halten das Urteil für falsch, weil der Retaxation ein vollkommen anderer Zweck zu Grunde gelegt wird“, sagt Schwintek: Die Korrektur solle eigentlich verhindern, dass der Kasse ein Schaden entstehe. Nach der Sichtweise des BSG erhalte sie aber den Charakter einer Sanktion, so Schwintek.
Dass die Kasse für das abgegebene Arzneimittel überhaupt nichts bezahlen muss, ist Schwintek zufolge vom Gesetz nicht gedeckt: Der Patient habe gegenüber der Kasse einen Sachleistungsanspruch, der durch den Rabattvertrag konkretisiert werde. Dieser Anspruch werde aber auch bei der Abgabe eines anderen Arzneimittels erfüllt, solange der Patient ordnungsgemäß versorgt sei, so Schwintek. Denn offensichtlich könne der Versicherte das Rabattarzneimittel kein zweites Mal verlangen.
Bei der Verfassungsbeschwerde könnten die Apotheker vorbringen, dass sie durch Nullretaxationen in ihren Grundrechten verletzt seien. Konkret geht es um die Berufsfreiheit sowie das Eigentumsrecht.
Kommt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu dem Schluss, dass diese Rechte berührt sind, muss es im nächsten Schritt klären, ob der Eingriff gerechtfertigt ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geht es dann um die Frage, ob Nullretaxationen „geeignet, erforderlich und angemessen“ sind.
Schwintek zufolge gäbe es durchaus mildere Mittel als die Vollabsetzung. Die Kassen könnten beispielsweise ihren konkreten Schaden geltend machen. Dazu müssten sie allerdings ihre Rabattverträge offenlegen. Wenn sie dies – wie bislang – ablehnten, hätten sie eben keinen Anspruch auf Retaxationen, so Schwintek.
Als Mittelweg könnten sich Kassen und Apotheker vertraglich verständigen, so der AVWL-Geschäftsführer. Denkbar sei beispielsweise ein konkreter Abschlag, den die Kassen bei Nichtbeachtung der Rabattverträge gelten machen könnten. Dieses Prinzip kommt schon heute zur Anwendung, wenn ein Patient auf eigenen Wunsch ein anderes als das Rabattarzeimittel erhalten möchte.
Schließlich sei auch eine Quote denkbar, die Kassen und Apotheker aushandeln müssten, sagt Schwintek. Demnach würden die Kassen auf Retaxationen zu Rabattarzneimitteln verzichten, sofern die Apotheke sich überwiegend an die Vorgaben hält.
Beim AVWL ist man der Auffassung, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen das BSG-Urteil notwendig ist. Immerhin geht es um beträchtliche Summen: Hat das Urteil Bestand, dürfen die an dem Musterverfahren beteiligten Ersatzkassen alle nur zur Hälfte vollzogenen Retaxationen seit 2009 voll umsetzen. Beim AVWL werden aktuell die Zahlen hierzu zusammengetragen.
Vor allem für die Zukunft hätte die Entscheidung weitreichende Konsequenzen: Da immer mehr Kassen auch Rabattverträge mit Originalherstellern und Reimporteuren schließen, könnte eine Nullretaxation auch im Einzelfall für die Apotheke gravierende Folgen haben.
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