Retax entgegen der Fachinfo: Die AOK weiß es besser Tobias Lau, 07.08.2019 15:34 Uhr
Was ist rechtlich relevanter – die Fachinformation der Hersteller oder die Stabil-Liste? Darum streitet sich der Falkensteiner Apotheker Robert Herold mit der AOK Bayern. Die hat ihn retaxiert, weil er bei der Zyto-Herstellung einen angeblich vermeidbaren Verwurf abgerechnet hat. Laut Fachinfo war er aber gar nicht vermeidbar. Egal, der „pharmazeutisch-technische Erkenntnisstand“ und die Praxis zeigten nämlich, dass es auch länger geht, so die Kasse. Dabei hat das Sozialgericht Nürnberg in so einem Fall bereits gegen die Kasse geurteilt.
Die Fachinformation zu Velcade (Bortezomib, Janssen-Cilag) ist eigentlich eindeutig: „Die chemische und physikalische Stabilität der gebrauchsfertigen Lösung wurde für 8 Stunden bei 25 °C in der Originaldurchstechflasche und/oder einer Spritze belegt“, heißt es da. Vor allem kleinere Herstellbetriebe stellt das oft vor Probleme: Wird an dem Tag nicht genug Wirkstoff benötigt, muss der Rest entsorgt werden, es handelt sich um einen unvermeidbaren Verwurf. Den sollten Apotheker eigentlich bei den Kassen abrechnen können – eigentlich. Denn die stellen sich oft quer, so wie bei Robert Herold.
Der stellt in seiner Central-Apotheke seit 1996 onkologische Zubereitungen her. „In letzter Zeit eher weniger, weil die großen Herstellbetriebe uns das streitig machen und das über solche Sachen noch befeuert wird“, sagt er und meint mit „solche Sachen“ das Verhalten der AOK. Die hat ihn kürzlich für den Januar 2018 retaxiert: 490,67 Euro holt sie sich zurück, weil er 1,2 Gramm Bortezomib entsorgen musste. Musste er nämlich gar nicht, meint die AOK. Herold legte Widerspruch ein, scheiterte damit aber.
Denn nach einer erneuten Überprüfung der Taxbeanstandung schrieb ihm die AOK, die Haltbarkeit von Anbrüchen insbesondere mit dem Wirkstoff Bortezomib sei nicht auf einen Zeitraum von wenigen Stunden beschränkt. „Die spätere Weiterverarbeitung beziehungsweise die Übernahme einer Restmenge aus einem früheren Anbruch ist nach dem pharmazeutisch-technischen Erkenntnisstand über die tatsächliche physikalisch-chemische Stabilität möglich und darüber hinaus gängige Praxis“, so die Kasse in ihrer Erwiderung. „Die mikrobiologische Stabilität kann dagegen stets vorausgesetzt werden, weil der fachgerechte Umgang mit den verwendeten Fertigarzneimitteln jede Möglichkeit der Verkeimung von Anbrüchen zuverlässig ausschließen muss.“ Dafür habe die Apotheke Sorge zu tragen.
Die Entscheidung, wie lange sie Bortezomib-Anbrüche weiterverwendet, obliege zwar der Apotheke selbst. „Bei Apotheke mit nicht nur gelegentlicher Herstellung kann jedoch regelmäßig davon ausgegangen werden, dass durch sorgfältige Produktionsplanung und durch wirtschaftlichen Umgang mit den Zytostatika Verwürfe vermieden werden können.“ Die gültige Hilfstaxe sehe keine Abrechnungsmöglichkeit für vermeidbare Verwürfe vor. Eine Quelle, worauf sie sich bei ihrer Einschätzung der Haltbarkeit konkret beruft, nennt die AOK nicht. „Die schreibt das, als wäre es ein allgemein anerkannter Stand der Wissenschaft“, sagt Herold. Er geht davon aus, dass sie sich an der Stabil-Liste orientiert hat. Dort decken die Angaben je nach Evidenzgrad eine Spanne von 8 Stunden bis 42 Tagen ab.
Herold hingegen hat aus Sicht der Kasse nicht schlüssig dargelegt, dass der abgerechnete Verwurf unvermeidbar war – obwohl er seine Produktion vom Januar 2018 vorlegte, aus der hervorgeht, dass er danach keine weitere Zubereitung mit Bortezumib hergestellt hat. „Entweder ich verwende die Anbrüche dann weiter, wie die AOK es will, oder ich entsorge die Substanzen und trage die Kosten dafür selbst“, sagt er frustriert. Beide Wege seien nicht gangbar. „Denn im Zweifelsfall orientiere ich mich an der Fachinformation des Herstellers. Die ist schließlich an die Zulassung des Arzneimittels gebunden. Vor Gericht könnte ich mich auch nur auf die berufen und nicht auf verschiedene Studien, die in der Stabil-Liste zitiert werden.“
Auch seinen zweiten Widerspruch hat die AOK abgebügelt, sodass ihm jetzt nach Stand der Dinge nur der Rechtsweg bleibt. Zu dieser möglichen Option wolle er sich jedoch noch nicht äußern. Dabei sähe es wahrscheinlich gar nicht so schlecht für ihn aus, denn die AOK hat erst vor zwei Jahren in einem ähnlichen Gerichtsverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg eine Niederlage einstecken müssen.
Damals hatte sich ein Apotheker mit der Kasse wegen einer Retaxierung von über 3300 Euro gestritten. Aus Sicht des klagenden Apothekers waren die Angaben in der Hilfstaxe verbindlich, während die AOK das nur als Minimalstandard verstanden wissen wollte und auf die teilweise abweichenden Angaben zur Haltbarkeit in der Literatur verwies.
Die Abrechnung unvermeidbarer Verwürfe ist in der Hilfstaxe in verschiedenen Gruppen teilweise sehr präzise geregelt. Zu bestimmten Wirkstoffen gibt es ganz konkrete Zeitangaben. Dazu zählt auch Bortezomib, der in Anhang 1 zu Anlage 3 Teil 1 der Hilfstaxe-Vereinbarung gelistet ist: Es sind acht Stunden.
Wenn innerhalb dieser Spanne aus dem Anbruch keine weitere Rezeptur hergestellt werden kann, darf die Apotheke der Kasse den Verwurf berechnen. Bei Stoffen, die nicht genauer definiert sind, gilt hingegen eine 24-Stunden-Regel. Kann ein Stoff nicht innerhalb von 24 Stunden verarbeitet werden, wird er zum unvermeidbaren Verwurf.
Allerdings: Dann muss der Apotheker vor Ablauf der Verwürfe die Fachinformation des Herstellers zurate ziehen. Andere Rechtsquellen und Listen zu prüfen, wie von der Kasse verlangt, bringe „eine nicht hinzunehmende Rechtsunsicherheit“, hieß es im Urteil. Das ist allerdings noch nicht rechtskräftig – die Kasse kann so lange noch ihr Glück versuchen.