Religiöse Bedenken: Apotheker darf Pille danach verweigern Tobias Lau, 17.01.2020 11:33 Uhr
Gibt ein Apotheker ein Arzneimittel aus religiösen Gründen nicht ab, verstößt er damit nicht automatisch gegen das Berufsrecht – zumindest nicht in dem Fall, dass es in zumutbarer Distanz andere Apotheken gibt, die die Abgabe nicht verweigern. Das hat das Berliner Berufsgericht für Heilberufe entschieden. An dieses hatte sich die Apothekerkammer gewandt, um gegen die Praxis von Apotheker Andreas Kersten vorzugehen, der in der Vergangenheit öfter für Aufsehen gesorgt hatte. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit beinhalte laut Gericht auch, dass Kunden kein Anrecht darauf haben, von den religiösen Überzeugungen eines Apothekers unbehelligt zu bleiben. Als er einer Kundin einen Zettel ungefragt nach Hause schickte, überschritt er allerdings eine Grenze.
Am 17. Februar 2017 ging eine Patientin in Berlin am späten Abend gemeinsam mit ihrem Freund zum Landwehrkanal in Berlin-Neukölln: Es war 22 Uhr und beide suchten nach einer Verhütungspanne die Undine-Apotheke auf, die an diesem Abend Notdienst hatte. Die Patientin wollte die „Pille danach“ kaufen. Doch sie wurden abgewiesen. Andreas Kersten – Inhaber und gläubiger Katholik – verweigerte aus Gewissensgründen die Abgabe. Stattdessen drückte er ihr ein Hinweisblatt in die Hand, in dem er sie auffordert, „dem Leben eine Chance zu geben“, und erklärte, dass sie doch ein Hilfstelefon für Schwangere anrufen oder sich an das nächstgelegene katholische Krankenhaus wenden solle. Wenn sie unbedingt die Pille danach wolle, könne sie ja zu einer anderen Notdienstapotheke gehen.
Das war eine sicherlich als unnötig empfundene Erschwernis für die Kundin. Gegen das Berufsrecht verstoßen hat Kersten damit aber nicht, wie das Berufsgericht für Heilberufe jetzt entschieden hat. Es ist der vorläufige Endpunkt langer Streitigkeiten um die Undine-Apotheke und ihren Inhaber. Kersten weigerte sich aus religiösen Gründen, die Pille danach abzugeben und hatte auch bei anderen Kontrazeptiva moralische Bedenken. Kondompackungen legte er ungefragt Flyer bei, in denen er dafür warb, auf Verhütung zu verzichten. Seit über zehn Jahren stand Kersten für seine umstrittene Vorgehensweise im Kreuzfeuer, es gab Demos gegen ihn, seine Apotheke wurde mehrfach von Unbekannten mit Steinen und Farbbeuteln attackiert. Im September 2018 schloss sie aus wirtschaftlichen Gründen endgültig ihre Pforten. Da war das juristische Nachspiel aber noch nicht ausgestanden.
Denn nachdem sie lange untätig blieb, ging die Apothekerkammer Berlin vergangenes Jahr berufsrechtlich gegen Kersten vor: Sie legte ihm zur Last, zwischen Junin 2013 und Februar 2017 in vier Fällen durch die Verweigerung der Abgabe „entgegen bestehender Verpflichtung die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung nicht gewährt und damit der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes nicht gedient zu haben“. Außerdem soll er ohne gesetzliche Grundlage personenbezogene Daten zweckwidrig verwendet haben.
Denn in mindestens einem Fall hatte Kersten einer Patientin einen seiner Info-Zettel ungefragt nach Hause zugeschickt – und dabei die Adressdaten verwendet, die er auf einem Rezept von ihr fand. Damit war er zu weit gegangen – nicht jedoch aus apotheken- sondern aus datenschutzrechtlichen Gründen. Das räumte er vor Gericht auch ein. Was auf dem Flyer stand, ist hingegen rechtlich nicht angreifbar. „Unabhängig davon folgt aus dem Inhalt des Zettels keine Berufspflichtverletzung, die eine Sanktion durch das Berufsgericht erfordern kann.“ Denn wissenschaftliche oder religiöse Ansichten oder Handlungen können laut dem Urteil vom November nicht Gegenstand eines berufsgerichtlichen Verfahrens sein.
Das Gleiche gilt damit für die Zettel, die Kersten Kondompackungen beigelegt hatte. „Diese Zettel haben seine Kundinnen, die sich an die Einleitungsbehörde gewandt haben, in nachvollziehbarer Weise als aufdringlich und ungefragt belehrend empfunden“, so das Urteil. „Gleichwohl handelt es sich um Ansichten, bei denen §16 Abs.2 Satz 1 KammerG dem Berufsgericht Zurückhaltung auferlegt.“ Auch dass er im Text nicht nur auf Ovulation und Nidation einging, sondern auch an seine Kunden appellierte „sich für eine grundsätzliche Offenheit und Bereitschaft, Kinder zu bekommen und für eine sorgsame Abwägung bei der Entscheidung für ein Verhütungsmittel – im Bewusstsein der Lebensbereicherung durch Kinder“ einzusetzen, kann ihm demnach nicht zur Last gelegt werden.
„Auch das Sachlichkeitsgebot verlangt nicht, sich auf eine Mitteilung nüchterner Fakten zu beschränken“, schreiben die Richter. „Im Ergebnis handelt es sich bei den Hinweiszetteln des Beschuldigten um eine bloße Lästigkeit, der sich Betroffene dadurch hätten entziehen können, dass sie die Apotheke verlassen und den Zettel entsorgen oder gleich die Annahme verweigern.“
Allerdings sind Infozettel und Datenschutzverstöße etwas anderes als die Verweigerung, ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel abzugeben. Hier lag das Primat allerdings beim Pragmatismus: „Auch die unterlassene Abgabe des Arzneimittels „Pille danach“ an die beiden Kundinnen kann dem Beschuldigten nicht als vorsätzliche Berufspflichtverletzung vorgeworfen werden“, schreiben die Richter. Kersten berief sich auf Artikel 4 des Grundgesetzes: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“
Diese Glaubensfreiheit werde zwar ohne Gesetzesvorbehalt, ist aber nicht schrankenlos gewährleistet. Denn die positive Bekenntnisfreiheit finde dort ihre Grenzen, „wo ihre Ausübung durch den Grundrechtsträger auf kollidierende Grundrechte Andersdenkender trifft“, so das Gericht dazu. Daher sei auch die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Kundinnen zu berücksichtigen. „Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben; das bezieht sich auch auf Riten und Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellen. Die Einzelnen haben in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, allerdings kein Recht darauf, von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben.“
Soll heißen: Apotheken haben unabhängig vom Glauben des Inhabers das Recht, die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Hier macht es jedoch einen Unterschied, ob der Kunde auf dem Land lebt, wo es zu später Stunde nicht zumutbar ist, in einer solchen Situation dutzende Kilometer zur nächsten Notdienstapotheke zurückzulegen – oder eben in Neukölln. „Von einer ausweglosen Lage für die (…) betroffenen Kundinnen kann hier jedenfalls nicht die Rede sein“, schreiben die Richter. Bei Google Maps lasse sich die Undine-Apotheke aufrufen – bereits im Kartenausschnitt finde sich die nächste Apotheke. „Die Kunden des Beschuldigten konnten also, wenn sie beim ersten Besuch mit dessen religiösen Überzeugungen konfrontiert wurden, die Informationszettel wegwerfen und ihren Bedarf an Kontrazeptiva zukünftig in anderen nahegelegenen Apotheken decken.“