Pro Woche: Apotheken sollen 200.000 Menschen impfen Patrick Hollstein, 28.06.2022 09:49 Uhr
Für die anstehende Impfkampagne im Herbst setzt Baden-Württemberg auf Arztpraxen und Apotheken. Beim APOTHEKE ADHOC Webinar „Zukunft Impfen – Herbst 2022: Ansturm auf die Apotheken?“ erklärten Tatjana Zambo, Vorsitzende des Landesapothekerverbands (LAV), und Silke Laubscher, Vizepräsidentin der Landesapothekerkammer (LAK), wie es dazu kam und welche Erwartungen die Landesregierung hat. Viele Zuschauer:innen aus anderen Bundesländern konnten nur staunen, denn die Vorbereitungen im Ländle sind weit fortgeschritten – und die Pharmazeut:innen fest eingeplant: Jede vierte Impfung soll demnach in der Apotheke verabreicht werden.
Laut Zambo hatte das Sozialministerium in Stuttgart bereits Ende April Kontakt mit den Verbänden der Ärzte, Tierärzte, Zahnärzte und Apotheken aufgenommen. Ziel war die Weiterentwicklung der Impfinfrastruktur – die ursprünglichen neun zentralen Impfzentren (ZIZ) waren seit Monaten geschlossen und sollten möglichst auch nicht wieder eröffnet werden müssen: Zu teuer sei der Betrieb gewesen, zu unflexibel die großen Strukturen etwa bei fehlendem Impfstoff, zu unzufrieden die Bürger:innen mit der Terminvergabe, so Zambo.
Schnell sei in den Gesprächen klar geworden, dass die Apotheken im neuen Konzept eine große Rolle spielen sollten. „Das haben wir dann natürlich auch forciert.“ Zunächst wollte das Ministerium wissen, mit welchen Zahlen man rechnen könne, wenn ab September tatsächlich nur noch in den bestehenden ambulanten Strukturen geimpft werden würde. Also starteten Kammer und Verband eine Blitzumfrage bei den Apotheken. 500 der 2330 Apotheken im Kammerbezirk meldeten sich zurück. Nach vier Tagen konnte man dem Ministerium vermelden, dass die Apotheken bereit seien, sich in die Kampagne einzubringen.
Ermutigt durch die Rückmeldungen der Heilberufler, formulierte die Landesregierung ihr neues Impfkonzept. Pro Woche sollen demnach in Arzt-, Zahnarzt- und Tierarztpraxen sowie Apotheken rund 810.000 Menschen geimpft werden. Ärzte und Apotheker wären nach diesen Berechnungen in der Lage, den Impfbedarf innerhalb von acht Wochen zu decken, sodass – gegebenenfalls gesteuert durch Wartelisten – in diesem Zeitraum jedermann ein Angebot erhalten könne.
Jede vierte Impfung in der Apotheke
Die Praxen hätten demnach signalisiert, im Regelbetrieb pro Woche etwa 550.000 Impfungen zu schaffen. In den Apotheken wären 195.000 möglich. Hinzu kommen noch die Privatärzte, die 53.000 Menschen innerhalb von sieben Tagen immunisieren könnten, und die Zahnärzte mit 12.000 Impfungen. In der vorläufigen Vereinbarung von Land und Kommunen zum Impfkonzept für den Herbst heißt es: „Möglich erscheinen darüber hinaus rund 100.000 Impfungen durch Betriebsärztinnen und Betriebsärzte sowie große Betriebe.“
Bei der Umfrage hatte die Kammer noch eine wichtige Erkenntnis gewonnen, wie Laubscher im Webinar berichtete: 38.000 Impfungen pro Woche könne man demnach in den Apotheken leisten, aber 156.000 Impfungen in externen Räumlichkeiten. Daher ist für die Kammerpräsidentin klar, dass Impfungen außerhalb der Apotheke möglich sein werden. „Schließlich wurde ja im Winter auch auf Parkplätzen und in Möbelhäusern geimpft.“
Auch andere Dinge würden möglich gemacht: So seien bereits seit Januar Impfungen rund um die Uhr möglich, an Sonn- und Feiertagen könne im Rahmen von Kampagnen bis zu sechs Stunden geimpft werden. „Wir gehen davon aus, dass weder Zeit noch Ort ein Hindernis sein werden. Und ich bin mir sicher, dass alle Hürden, die die Kampagne ausbremsen könnten, ausgeräumt werden.“
Zentrale Terminvergabe
Für die Apotheken gebe es keine Anforderungen, die man nicht schon kenne, so Zambo. Die Lieferung des Impfstoffs etwa werde voraussichtlich so erfolgen wie bislang. Denkbar wäre aber auch, Bestellungen vor Ort zu bündeln, entschieden sei diesbezüglich aber noch nichts. Was organisatorische Detailfragen angehe, wie die Entfernung der Räumlichkeiten zur Apotheke, sei noch viel im Fluß. Sie gehe davon aus, dass auch größere Distanzen zulässig seien, dann gegebenenfalls mit Gewerbeanmeldung. „Das klären die Juristen gerade. Hier sollte jeder ohne Scheu mit seinem Regierungspräsidium sprechen. Wir werden schließlich gebraucht.“
Um das Impfgeschehen in Echtzeit verfolgen zu können, plant das Sozialministerium laut Zambo derzeit eine zentrale Terminvergabe, an die dann auch die Apotheken über das Verbändeportal angeschlossen werden sollen, das ja ohnehin bereits zur Meldung im Rahmen der Impf-Surveillance genutzt werde. Außerdem soll es lokale Impfkoordinatoren geben. „Das ist schon alles sehr ausgefeilt.“
Mit Widerstand der Praxen rechnet die Verbandschefin nicht. Auch wenn die Ärzteorganisationen teils heftig reagiert hätten, seien viele Ärzt:innen vor Ort dankbar über die Unterstützung. „Sie finden es prima, wenn wir mit anpacken. Gemeinsam schaffen wir das.“ Man setze auch auf große, gemeinsame Impfaktionen vor Ort. Auch das Ministerium habe zugesagt, dass es kein Störfeuer, sondern ein kollegiales Miteinander geben werde.
Laut Zambo wird wohl jede dritte Apotheke gebraucht, um die versprochenen Impfungen durchführen zu können. „Das wäre machbar, wenn wir zügig sind. Daher sollte sich jeder Kollege und jede Kollegin jetzt Gedanken machen.“ Druck hält sie für überflüssig: „Es ist unfassbar, wie viele Kolleginnen und Kollegen willens sind. Wir werden ihnen alle erforderlichen Instrumente in die Hand geben.“
„Machen Sie mit!“
Taugt das Modell als Blaupause? Laubscher findet durchaus, dass die Einbindung bewährter Strukturen der Regelversorgung auch in anderen Bundesländern funktionieren könne. Dass die Apotheken zum Erfolg verdammt sind, würde sie so nicht unterschreiben: „Ich sehe das als Chance statt Risiko. Wir können ein weiteres Mal beweisen, dass man auf uns zählen kann. Daher mein Aufruf an alle Kolleg:innen: Machen Sie mit!“
Laut Laubscher sind derzeit bei der Kammer 300 Apotheken gemeldet, die Corona-Impfungen anbieten. 1000 Pharmazeut:innen seien bereits geschult. Zwar sehe man derzeit wegen des Sommers eine geringere Nachfrage an Schulungen, doch als Kammer werde man nun alles in die Wege leiten, um die Apotheken für einen „heißen Herbst“ vorzubereiten. Auch Apotheker:innen aus Industrie und Kliniken wolle man einbinden, Laubscher kann sich über eine Vermittlungsplattform vorstellen. Impfungen ohne Anbindung an eine Apotheke seien aber wohl nicht möglich: „Wir gehen davon aus, dass der Apothekenleiter das Personal anstellen muss, gegebenenfalls auch als Minijob.“
Dass die Erlaubnis, Menschen gegen Corona zu impfen, bis Jahresende befristet ist, stellt laut Laubscher kein Problem dar: Einerseits könne man die Schulung dann auch für Grippeimpfungen nutzen. Andererseits gehe sie davon aus, dass die Regelung verlängert wird. „Es wäre ja nicht die erste kurzfristige Entscheidung in dieser Pandemie.“
Das komplette Webinar „Zukunft Impfen“ zum Ansehen finden Sie im On-Demand-Bereich von APOTHEKE ADHOC Webinar.
Kretschmann will keine Impfzentren
Die große Frage ist nun, ob das reicht, wenn es wegen einer neuen Welle oder einer zumindest denkbaren neuen Virusvariante wieder einen Ansturm auf die Praxen und Apotheken geben sollte. Das Land hat die Impfzentren zwar größtenteils geschlossen, behält es sich aber vor, sie bei Bedarf wieder zu öffnen. Der Bund rechne gegenwärtig mit einem bundesweiten Bedarf von rund 50 Millionen notwendigen Impfungen im Herbst. Der Anteil von Baden-Württemberg läge somit bei etwa 6,5 Millionen Impfungen.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte am Dienstag gesagt, man habe nicht vor, die Impfzentren im Herbst wieder zu öffnen. Das wurde aber gleich wieder eingeschränkt. Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) will dafür gewappnet sein, sollte es einen Run auf die Impfungen geben: „Sollte eine Situation eintreten, dass in einem kurzen Zeitraum plötzlich extrem hohe Mengen verimpft werden müssen, weil die Menschen sich boostern lassen möchten, eine neue, gefährlichere Virusvariante auftritt oder der neue, an Omikron angepasste Impfstoff vorliegt, möchte ich parat sein.“ Das schließe auch die Wiedereröffnung von Impfzentren ein. Die Kommunen sind wegen der hohen Kosten eigentlich dagegen.
Das Land hatte wegen des weitgehenden Leerlaufs im letzten Sommer und Herbst die Impfzentren mit großen Kapazitäten zugesperrt und auf mobile Teams umgestellt. Doch dann kam in der vierten Corona-Welle mit der Delta-Variante der hohe Bedarf an
Booster-Impfungen. In den Kreisen wurden ab November Impfstützpunkte aufgebaut, um der Nachfrage nach Auffrischungsimpfungen nachkommen zu können. Mit dem Abbau des Großteils der bisherigen Teams und Stützpunkte ab April will die Regierung auch die enormen Kosten drücken. Die im Winter aufgebaute Struktur hat das Land dem Vernehmen nach mehr als eine halbe Milliarde Euro gekostet.
Zumindest bis Herbst bleibt das Impfangebot wegen fehlender Nachfrage reduziert. Statt der etwa 350 mobilen Impfteams und 135 Impfstützpunkten sollte es jeweils nur noch bis zu einem Team und einem Stützpunkt in allen 44 Stadt- und Landkreisen geben. So sei es möglich, flexibel zu reagieren, etwa wenn sich die Pandemie wegen einer neuen Virusvariante erneut dramatisch zuspitzen sollte. Das gilt auch weiterhin. Wenn ein Kreis sagt, er braucht diese Struktur momentan nicht, muss er den Stützpunkt nicht betreiben. Er müsse aber in der Lage sein, ihn innerhalb einer Woche wieder zu betreiben, erklärte eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums.
Mittlerweile sind in Baden-Württemberg rund 8,2 Millionen Menschen zweimal geimpft, das sind 74,5 Prozent. Geboostert sind knapp 7,2 Millionen Menschen im Südwesten – das sind fast 65 Prozent.