Das Maßnahmenpaket von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gegen die Lieferengpässe ist vor allem eins – heiße Luft. Für drei Monate werden die Festbeträge in einigen wenigen Produktgruppen ausgesetzt – und ganz egal, ob die Hersteller jetzt die Preise anheben oder nicht: Die Kassen werden es hinterher wieder besser gewusst haben. Wohl nicht ohne Grund fürchtet die Industrie, dass die Aktion nach hinten losgehen könnte.
Für sieben Wirkstoffe oder Wirkstoffgruppen setzen die Krankenkassen die Festbeträge aus, darunter unter anderem Fiebersäfte und -zäpfchen mit Paracetamol und Ibuprofen sowie Antibiotika-Suspensionen. Andere Segmente, die ebenfalls von massiven Engpässen betroffen sind, werden dagegen schlichtweg ausgeblendet, darunter Krebs- und Blutdruckmedikamente, aber auch Inhalativa für Kinder. Kein Wunder, dass mittlerweile auch Kinderärzte und Onkologen auf die Barrikaden gehen.
Die Hersteller lässt die Aktion aber auch aus einem anderen Grund ratlos zurück. Denn auch bei den – ohnehin nur temporär für drei Monate – angehobenen Preisen fällt Nachschub nicht vom Himmel. „Wir haben die Ware schlichtweg nicht“, sagt ein leitender Manager eines großen Generikakonzerns. Genau das hatte aber in der Tagesschau der Sprecher des GKV-Spitzenverbands vorgestern der Industrie unterstellt – dass irgendwo auf der Welt noch Reserven liegen, die jetzt wegen des höhreren Preisniveaus nach Deutschland umgeleitet werden. „Das ist totaler Unfug. Wir allokieren nicht nach Wertschöpfung, sonst würde vieles schon seit Jahren überhaupt nicht mehr nach Deutschland gehen.“
So schön der Vorstoß im Grunde ist, die Daumenschrauben nach Jahren des Sparzwangs erstmals zu lockern – mit seinem unabgestimmten Vorschlag hat Lauterbach die Unternehmen in eine Zwickmühle manövriert. Wie auch immer sie jetzt reagieren, sie können es im Grunde nur falsch machen: Lassen sie die Preise auf dem derzeitigen Niveau, werden ihnen die Kassen hinterher vorhalten: So schlimm war es ja gar nicht. Heben sie aber die Preise an, ohne dass sich die Versorgung schlagartig verbessert, wird mit dem Finger auf sie gezeigt werden: Die gierigen Großkonzerne bereichern sich auf Kosten der Solidargemeinschaft und tun nichts für die Versorgung.
Bereits jetzt geben die Kassen einen Vorgeschmack darauf, wie die politische Debatte in den kommenden Wochen und Monaten aussehen wird. Der Ersatzkassenverband vdek warf der Industrie gestern vor, sich nicht rechtzeitig auf den hohen Bedarf eingestellt zu haben, und forderte ein verschärftes Frühwarnsystem. Und der GKV-Spitzenverband gab unverblümt zu Protokoll, dass die Aussetzung der Festbeträge kein „Freifahrtschein für Gewinnmaximierung“ sei. „Wir werden hier genau hinschauen, wie die Aussetzung der Festbeträge wirkt.“
Noch wenige Tage bleiben den Herstellern, um ihre Preise ab 1. Februar bei der Abdata zu melden. Noch will sich niemand so recht in die Karten gucken lassen, wohl auch aus Wettbewerbsgründen. Einzig Infectopharm verweist auf Nachfrage auf die jüngste Preiserhöhung im Herbst, sodass es bei den in Frage kommenden Produkten vorerst keine weiteren Erhöhungen geben werde.
Hexal und Ratiopharm prüfen nach eigenen Angaben noch, wie sie mit der neuen Möglichkeit umgehen. „Unser Ziel ist eine langfriste und faire Preisgestaltung, die verträglich für unsere Patientinnen und Patienten ist. Aktuell analysieren wir noch die Lage“, heißt es etwa aus Ulm. Denn: Die dreimonatige Aussetzung der Festbeträge für Kinderarzneimittel werte man zwar als weiteres positives Signal. „Es zeigt erneut, dass die Politik den Ernst der Lage erkannt hat.“ Für eine langfristige Lösung des Problems seien die angekündigten Maßnahmen jedoch nicht ausreichend. „Denn für die wenigen verbliebenen Hersteller ist eine Kapazitätserweiterung schlicht nicht möglich, so dass sich die Lage auf die Schnelle nicht entspannen kann“, so Geschäftsführer Andreas Burkhardt.
Teva Deutschland produziert die Fiebersäfte nach seinen Angaben aktuell bereits unter Auslastung aller verfügbaren Kapazitäten und ausschließlich für den deutschen und österreichischen Markt. „Eine Mehrproduktion ist auch ohne den Festpreis für uns kurzfristig nicht umsetzbar. Es braucht mehr Vielfalt im Markt um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Damit wieder mehr Unternehmen in die Produktion einsteigen sind langfristige Anreize notwendig, ein temporäres Aussetzen der Festbeträge genügt dafür nicht." Der Hersteller hält eine Anpassung des Preissystems für eine Voraussetzung.
Aliud Pharma habe laut einer Sprecherin aufgrund gestiegener Herstellkosten einzelne Preiserhöhungen unter Berücksichtigung der noch geltenden Festbeträge bereits im Dezember der IFA gemeldet, die zum 15.01.2023 wirksam werden. Der Hersteller hält die Aussetzung der Festbeträge ebenfalls für eine positive Geste, aber sieht die Lage ähnlich: „Es wird das Problem der Engpässe aus unserer Sicht weder kurz- noch langfristig lösen. Bestehende Produktionskapazitäten sind auf Monate hinaus im Voraus verplant, so dass innerhalb weniger Monate keine Entspannung der Lage eintreten kann. Die Lage kann sich nur verbessern, wenn Preiserhöhungen auch bei den Unternehmen nachhaltig ankommen. Und das tun sie nur, wenn auch andere, rein auf Kostensenkung abzielende Regelungen wie Rabattverträge, 4-G-Regel und Preismoratorium ausgesetzt werden. Alle Abhängigkeiten von Preisregulierungsmaßnahmen müssten berücksichtigt und langfristig angepasst werden, um erfolgreich zu sein."
Und noch eine Sorge treibt die Unternehmen um. Wenn die Preise zum 1. Februar wirklich steigen, könnten Apotheken noch einmal verstärkt bestellen, um Lagerwertgewinne mitzunehmen. Das sei zwar angesichts der knappen Verfügbarkeit wenig zielführend, könnte aber die Versorgungslage akut verschlechtern. Zwar könnten die Preise nach drei Monaten wieder sinken, sofern bis dahin keine Anschlussregelung gefunden ist. Aber bis dahin könnten die Bestände abgebaut oder Lagerwertverluste angemeldet werden. An diese Dynamik habe jedenfalls offenbar niemand gedacht.
Ähnlich nüchtern sieht die Industrie übrigens die Aufforderung Lauterbachs an die Apotheken, möglichst viele Rezepturen herzustellen. Nicht nur, dass die Defektur immer noch nicht freigegeben ist und dass die Kassen noch immer ein separates Rezept fordern. Die Herstellung aus der Apotheke sei im 21. Jahrhundert auch gar nicht geeignet, um die erforderlichen Mengen zu liefern. Alleine von den Fiebersäften würden pro Jahr zehn Millionen Packungen verkauft.
„Die letzten Veröffentlichungen zum Aussetzen der Festbeträge bei Kinderarzneimitteln sind eine große Enttäuschung“, fasst Dr. Hans-Georg Feldmeier, Vorsitzender des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI), die Lage zusammen. „Eine Befristung dieser Maßnahme bis 30. April ist komplett unverständlich und wäre nur zu akzeptieren, wenn die Zeit genutzt wird, um eine berechenbare, gesetzlich fundierte Lösung für alle Arzneimittel der Grundversorgung zu erarbeiten. Eine kurzfristige Vermeidung von Lieferengpässen ist mit diesem Schnellschuss aus der Hüfte nicht erreichbar.“
13 Jahre verfehlte „Geiz ist Geil-Gesundheitspolitik" können laut Feldmeier nicht in drei Monaten geheilt werden. „Eine Verbesserung der Liefersicherheit werden wir aufgrund saisonaler Effekte, aber keinesfalls wegen der angekündigten Maßnahmen erreichen. Wir haben in den letzten Jahren wegen der verfehlten Gesundheitspolitik die Anbietervielfalt verloren. Niemand kann von der Pharmazeutischen Industrie erwarten, dass Arzneimittel unter Herstellungskosten angeboten werden. Es muss sich grundlegend etwas ändern.“ Faire Vorschläge seitens der Indstrie lägen auf dem Tisch. „Dabei geht es keinesfalls um ‚Gewinnmaximierung‘, wie die GKV kolportiert, sondern um eine Sicherung der Grundversorgung mit hochwertigen Arzneimitteln.“
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