Als der Rahmenvertrag geschrieben wurde, hatten die Altvorderen keine Ahnung davon, dass Lieferengpässe im Jahr 2020 den Apothekenalltag in Deutschland (mit)bestimmen würden. Um die Versorgung zu sichern, soll nun der Preisanker gelichtet werden. Doch die Kassen warnen vor Anarchie im Handverkauf und bringen neue Regelungen wie den Preisschäkel ins Spiel.
Lieferengpässe sind längst kein Phänomen mehr, das sich nur in den hintersten Winkeln der Apotheken abspielt. So ziemlich jeder Apothekenkunde dürfte schon damit konfrontiert worden sein, dass sein Präparat oder gar Wirkstoff nicht vorrätig war und nicht beschafft werden konnte. Die Medien berichten fast täglich, die Politik ist unter Druck.
Wenig hilfreich ist es da, wenn rigide Abgabebestimmungen in der Apotheke die Lage unnötig verkomplizieren. Immerhin: Im Herbst konnten sich DAV und GKV-Spitzenverband darauf verständigen, dass bei Überschreiten des Preisankers im „dringenden Fall“ kein Rückruf in der Praxis mehr erforderlich ist. Nur die Ersatzkassen wussten zunächst nichts damit anzufangen.
Kurz darauf die nächste gute Nachricht: Apotheker sollten nicht lieferbare Rabattarzneimittel gegen ein wirkstoffgleiches Arzneimittel austauschen können – nach einer Wartezeit von 24 Stunden. Doch nicht jede Krankheit hält sich an solche bürokratischen Vorgaben, Keime beispielsweise vermehren sich in dieser Zeit gerne einmal exponentiell um den Faktor 1021. Das musste auch die Politik einsehen, und so wurde der Änderungsantrag zum Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) in dieser Woche erneut geändert: Nicht lieferbare Präparate sollen nach „angemessenere Frist“ ersetzt werden dürfen.
Den Kassen gehen, wie nicht anders zu erwarten, solche Freiheiten viel zu weit. Eine Abgabe ohne Viererregel, Rangfolge und Preisanker – ungeheuerlich! Am späten Freitagabend einigte sich eine geheime Kommission beim GKV-Spitzenverband auf ein Positionspapier, das in der kommenden Woche in den Gesundheitsausschuss eingebracht werden soll und das APOTHEKE ADHOC ultraexklusiv vorliegt.
Ist ein Rabattarzneimittel – wirklich wirklich wirklich – nicht lieferbar, darf die Apotheke auf ein Präparat aus demselben Konzernverbund ausweichen. Auf diese Weise sollen die Rabattpartner die Chance erhalten, Konventionalstrafen abzuwenden. Ist dies nicht möglich, kommen Firmen mit ähnlicher Eigentümerstruktur in Betracht, dabei genügen acht Überschneidungen im Aktionärskreis. Das BfArM wird ermächtigt, alle relevanten Informationen bei der BaFin einzuholen und in einem separaten Register zusammenzustellen.
Kommt danach keine Auswahl zustande, sollen Apotheken unter den nichtrabattierten Arzneimitteln zunächst solche auswählen, die in Europa hergestellt wurden. Die Kassen verstehen diesen Vorschlag als Vorgriff auf die ohnehin von der Industrie geforderten und von der Politik geplanten, aber bislang mehrfach verschoben Maßnahmen zur Rückverlagerung der Produktion in hiesige Gefilde. Dabei gilt die Regel, dass Wirkstoffsynthese und Fertigarzneimittelfertigung mit dem Faktor 1, Konfektionierung und Umverpackung nur mit dem Faktor 0,5 berücksichtigt werden. Die erforderlichen Daten sind im GSAV-Register zu finden.
Ist danach immer noch keine eindeutige Entscheidung möglich, müssen Apotheken den Hersteller nach der Anzahl der Mitarbeiter in Deutschland auswählen. Dabei werden – Förderung der Frauenquote! – weibliche Angestellte mit dem Faktor 1,5 bewertet, wobei bei Außendienstlern ein Abschlag in Höhe von 0,7 anzusetzen ist und akademische Mitarbeiter nur dann gezählt werden, wenn sie in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Eigenheimzulagen können gegebenenfalls geltend gemacht werden.
Zugegeben, diese Positionspapier existiert nicht – und wenn doch, ist es noch unter Verschluss. Noch reichlich unausgegoren sind leider auch die Ideen, über die in der kommenden Woche im Gesundheitsausschuss gesprochen werden sollen. Der Austausch gilt unter Vorbehalt, dNrR – das Nähere regelt der Rahmenvertrag, versteht sich. Immerhin: Die bisher vorgesehene 24-Stunden-Regelung ist vom Tisch, und ein Rücktritt vom Rückschritt kann in schlechten Zeiten auch schon als Erfolg zu sehen sein. Und CDU-Arzneimittelexperte Michael Hennrich hat versprochen, bei den Apotheken für echte „Entlastung“ zu sorgen, denn: „Apotheken sind die Leidtragenden beim Management von Lieferengpässen.“
Das BfArM treibt derweil die Sorge um, dass sich die Problematik noch aus ganz anderen Gründen verschärfen könnte: Wenn in China wegen der „Corona-Epidemie“ Millionen Menschen zu Hause bleiben müssen, wer produziert dann die Wirkstoffe für deutsche Arzneimittel? Die Behörde hat die Herstellerverbände gebeten, bei ihren Mitgliedsunternehmen nachzufragen – und will dann „umgehend und in geeigneter Form“ kommunizieren.
Andere aktuelle Engpässe haben banalere Ursachen: Lamotrigin fehlt offenbar, weil einem Wirkstofflieferanten aus Spanien das notwendige CEP-Zertifikat entzogen wurde. Metformin musste bei Zentiva zuletzt noch auf NDMA geprüft werden. Und bei Venlafaxin soll es angeblich Probleme mit dem Securpharm-Siegel gegeben haben. Das wäre dann übrigens die Ausnahme: Mehr als eine Milliarde Packungen sind seit dem Start von Securpharm vor einem Jahr eingescannt worden. Die Verantwortlichen sind zufrieden: Die Zahl steigt, die Fehlerquote sinkt. Zahl der Fälschungen: Null.
Tatsächlich hat Securpharm die Stimmung in den Apotheken nicht getrübt, die allgemeine Zufriedenheit unter PTA und Approbierten liegt laut aposcope-Umfrage auf hohem Niveau. Nur der Chef nervt manchmal, das niedrige Gehalt und die fehlenden Aufstiegschancen.
Was die Inhaber nervt, sind eher finanzielle Belastungen, mit denen nicht gerechnet werden konnte. Das können Lagerwertverluste sein, die Hersteller wie Novartis nicht übernehmen wollen, oder Retaxationen über 1200 Euro, die sich manchmal zwar als haltlos erweisen, aber trotzdem Arbeit machen. Dass die Abrechnungen bei der falschen Prüfabteilung landen, könnte zwar mit dem E-Rezept verhindert werden. Aber bis der Segen der Digitalisierung in den Apotheken ankommt, muss eben erst einmal investiert werden. Nicht jeder Inhaber will das noch auf sich nehmen.
Dirk Vongehr dagegen ist bereit, in neue Dienstleistungen zu investieren. So bringt der Apotheker aus Köln seinen Kunden dringend benötigte Medikamente auch im Notdienst nach Hause, weil sie nachts ja gerade nicht in die Apotheke kommen können. Nicht jeder Kollege versteht diese Einstellung und findet den Testballon gut – und so wurde eifrig und auch kontrovers diskutiert.
Dass Lieferdienste in Verbindung mit Bestellplattformen künftig eine entscheidende Rolle spielen werden, davon sind Dr. Clemens Oberhammer und Jan Merkel von der Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners überzeugt. Wer hier nicht mitspiele, werde es „mittelfristig sehr schwer haben“. Zumal auch die Versender in die Offensive gehen: Neben DocMorris plant auch Shop-Apotheke einen Marktplatz. Auch in Frankreich soll für Plattformen sogar die gesetzliche Grundlage geschaffen werden.
Bleibt zu hoffen, dass es schwarze Schafe außen vor bleiben. Aktuell geben sich Telefonbetrüger wieder als Apotheken aus, um Verbrauchern teure Produkte unterzujubeln. Andererseits: In der Schweiz hat es eine Frau geschafft, sieben Jahre lang in einer Apotheke zu arbeiten, ohne je ein Pharmaziestudium absolviert zu haben. Und wenn Sie jetzt trotz Wochenende schon wieder Lust auf Apotheke haben: Einfach Netflix einschalten und die Dokuserie „The pharmacist“ reinziehen!
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