Nullretaxation: „Die Verbände haben Fehler gemacht“ Patrick Hollstein, 30.11.2022 10:30 Uhr
Wer unterschreibt solche Verträge? Diese Frage stellt sich vermutlich jeder Apothekeninhaberin und jedem Apothekeninhaber, wenn Nullretaxationen ins Haus flattern. Erstmals hat jetzt ein Standesvertreter eingeräumt, dass in den Verhandlungen seitens der Apothekerschaft Fehler gemacht wurden: Im APOTHEKE ADHOC Webinar „Keine Dosierangabe, kein Geld: Wer stoppt den Retax-Irrsinn?“ sprach sich Holger Seyfarth, Vorsitzender des Hessischen Apothekerverbandes (HAV), für ein radikales Vorgehen in letzter Konsequenz aus.
Das Verhältnis zu den Krankenkassen beschreibt Seyfarth so: „Emotional ist es mehr ein Nebeneinander geworden, auch etwas ein Gegeneinander, aber muss man natürlich auch festhalten: In vielen Bereichen funktioniert ja die Zusammenarbeit. Wir versorgen in Hessen 6,5 Millionen Versicherte. Die müssen ja irgendwo hin, ob zu den Ärzten oder zu uns, die Kassen zahlen – noch – pünktlich.“ In einem regulierten Markt wie dem Arzneimittelmarkt brauche man aber ein Gleichgewicht der Kräfte. „Man kann nicht einem Partner – den Krankenkassen – fast die Deutungshoheit überlassen und den anderen lässt man am ausgestreckten Arm verhungern, nach dem Motto: ‚Wenn du es nicht tust, tut es halt ein anderer.‘“
Als Drohszenario stünden Selektivverträge in Raum: Ein Teil der Versorgung werde ausgelagert und von Dienstleistern aus dem EU-Ausland übernommen. „Das ist unverhältnismäßig und muss von der Politik aufgegriffen werden: Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen man wieder auf Augenhöhe miteinander verhandeln kann. Im Moment sind wir ganz klar am kürzeren Hebel.“
Kein Vertrag mit Vollretax mehr
Aber wie kam es dazu, dass die Krankenkassen in diese überlegene Position gekommen sind und die Verhandlungen bestimmen? Seyfarth: „Heute unterschreiben wir in Hessen keinen Arzneiliefervertrag mehr, in dem eine Vollretax drinsteht. Es sind aber, das muss man ganz klar sagen, grundlegende Fehler von den Vertragspartnern – das sind die Landesverbände oder eben der DAV – gemacht worden, grundlegende Fehler. Und da muss nun angefangen werden aufzuräumen.“
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Das ist aber gar nicht so einfach, weil die Krankenkassen natürlich nichts einfach so hergeben würden: „Was macht man, wenn sich solche Verträge so einseitig zu Lasten einer Partei auswirken? Die Antwort ist ganz einfach: Man muss diese Verträge aufarbeiten und in letzter Konsequenz muss man diese Verträge kündigen, mit allen Konsequenzen, die daraus entstehen.“ Es könnten beispielsweise Übergangszeiträume vereinbart werden oder Sicherheitsklauseln, dass die Versorgung weiter stattfindet – schon wegen des Kontrahierungszwangs. Am Ende müssten dann eben Kostenvoranschläge geschrieben werden und die Kasse müsse vorher erklären, dass sie das Rezept bezahle. Den konkreten Weg auszuarbeiten, sei Sache der Juristen. Das sei der Plan B, wenn die Politik den Sachverhalt nicht geregelt bekomme.
Politik müsste Retax verbieten
Laut Seyfarth wäre tatsächlich die Politik am Zug, denn es gehe im Grundsatz um die Vorgaben der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV). Allerdings glaube er nicht mehr an die Versprechungen, nachdem seit fast einem Jahrzehnt nichts passiert sei. „Das Thema steht seit acht Jahren auf der Agenda, und wir als Verbände tragen es bei jeder Gelegenheit vor. Aber bislang ist nichts passiert, warum sollte jetzt etwas passierten“, so Seyfarth mit Blick auf die Ankündigung von Wirtschaftsminister Robert Habeck, das Thema im Zusammenhang mit Bürokratieabbau im kommenden Jahr anzugehen. „Ich bin nicht pessimistisch, aber ich bin skeptisch.“
Seiner Meinung nach könne man die Retaxationen vor Gericht schnell entkräften: „Wo ist der wirtschaftliche Schaden für die Kasse?“ Die zweite Frage sei: „Wird die Patientensicherheit durch die Dosierungsangabe wirklich verbessert?“ Seyfarth ist nicht der Meinung: „Wir sehen so viele Fehler auf den Rezepten, es fehlen wichtige Angaben. Das ist eine gut gemeinte Sache, die leider handwerklich schlecht umgesetzt ist.“
Volle Zustimmung von Andrea Prochaska, Inhaberin der Sonnen-Apotheke aus Mönchengladbach, die ihre DJ-Nullretax über 2500 Euro gerade öffentlich machte und dafür viel Zuspruch von Kolleg:innen aus ganz Deutschland erhalten hat: Sie weist darauf hin, dass gerade die Formulierung „DJ“ den eigentlichen Zweck der Regelung ad absurdum führe: „Damit ist die Dosierung überhaupt kein Qualitätsmerkmal.“
Versorgung zum Nulltarif
Retaxationen gefährdeten die Versorgung: Gerade im Notdienst hätten die wenigsten Rezepte eine Dosierung – sollten die Apotheken die Belieferung in solchen Fällen komplett verweigern? „Mit solchen Regelungen wird unsere Kompetenz in Frage gestellt.“
Für sie ist klar, dass es den Kassen nicht um die Sicherheit, sondern nur ums Geld geht: „Das ist moderne Wegelagerei. Durch Nullretaxationen bekommen die Kassen die Versorgung ihrer Versicherten zum Nulltarif – auf Kosten der Apotheken. Das muss sofort aufhören!“ Wenn die Verbände nicht gehört würden, müssten eben die Apotheken sprechen. Sie fordert eine Heilbarkeit für alle Retax-Fälle.
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Die gute Nachricht: Ihr Einspruch wurde mittlerweile anerkannt – ein Glück, denn anderenfalls hätten weitere vier Rezepte beanstandet werden können, die ebenfalls aufgrund eines Softwarefehlers in der Praxis ohne Dosierangabe ausgestellt wurden. Besonders geärgert hat sie sich aber über ihren Verband, der ihr rundheraus erklärte, dass sie ja tatsächlich einen Fehler gemacht habe.
E-Rezept: Chance vertan
Wird es mit dem E-Rezept besser? Seyfarth glaubt nicht daran: „Ich bin ein Befürworter des E-Rezepts, wenn es Erleichterungen bringt. Aber die Chancen, die das E-Rezept hätte, sind nicht ansatzweise für die Apotheken erkennbar, genauso wie für alle anderen Beteiligten.“ Seiner Meinung nach wurde zu viel versäumt. Während die Apotheken hunderte Euro für Software ausgeben, sei es den IT-Anbietern der Praxen offenbar nicht möglich, einen sauberen Datenstand abzubilden. „Stand jetzt läuft es beim E-Rezept genauso wie bei Muster 16: Den Letzten in der Kette beißen die Hunde.“
Ähnlich sieht es Brigitte Fehrmann, die beim Landesapothekerverband Baden-Württtemberg die Abteilung Taxation mit zwölf Mitarbeiter:innen leitet. „Realistisch betrachtet werden Retaxationen auch nach Einführung des E-Rezepts nicht einfach aufhören. Es wäre schön, aber im Moment sieht es danach aus, als würden bei der Ausstellung nicht alle formalen Prüfungen gemacht.“ Dabei hätten die Apothekervertreter viel Energie investiert, aber es säßen eben auch andere Parteien am Tisch. „Die Apotheken wurden nicht immer gehört.“ Ihre Hoffnung ruhe nun auf dem Referenzvalidator.
Milliardenkosten für Apotheken
Seyfarth rechnet vor: Von einem Umsatzvolumen von rund 40 Milliarden Euro würden nach Hochrechnung seines Verbands bundesweit 30 bis 50 Millionen Euro retaxiert. Das liege im Promillebereich – und werde von der Politik nicht als großes Problem gesehen, bei dem man unbedingt eingreifen müsse.
Andererseits koste aber die Bearbeitung jedes einzelnen Rezepts die Apothekenteams inklusive Kontrolle im Durchschnitt 3,5 bis 5 Minuten. Bei 500 Millionen Rezepten und 2 Euro anteiligen Personalkosten komme man so auf einen Betrag von einer Milliarde Euro pro Jahr, die die Apotheken aufwenden müssten. „Wofür hier Geld verbrannt wird, steht in keinem Verhältnis zu dem, was damit erreicht wird.“
Und er spinnt den Faden gleich weiter: „Was kostet eigentlich die Unterhaltung einer Retaxabteilung oder die Beauftragung eines Subunternehmers? Lohnt sich das für die Kassen überhaupt? Wird hier verantwortungsbewusst mit Versichertengeldern umgegangen? Stichwort Wirtschaftlichkeitsgebot!“ Seyfarth hat seine Zweifel – und er erinnert auch daran, wozu die Rezeptkontrolle und -beanstandung ursprünglich eingeführt wurden: „Um rebellische Apotheker zu sanktionieren, die sich wirklich an gar keine Regeln halten wollten.“
Nachwuchs will nicht in Apotheke
Heute werde das Gegenteil erreicht: „Der Staat gibt 150.000 Euro pro Pharmaziestudiumsplatz aus. Wir bekommen hervorragend ausgebildete Leute von den Unis, deren Wissen in der Apotheke so gut wie gar nicht abgefragt wird. Die Aufgaben eines Approbierten beschränken sich heute zum großen Teil auf logistische Probleme und Sonder-PZN.“ Dabei müsse der Staat eigentlich ein Interesse daran haben, dass das Geld gut investiert sei.
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Laut Prochaska gefährden die Retaxationen die Zukunft der wohnortnahen Versorgung. Mittlerweile finde sich kaum noch Nachwuchs, der bereit sei, unter solchen Bedingungen eine Apotheke zu leiten. Und auch für die Mitarbeiter:innen sei das Risiko eine dauerhafte Belastung. „Die jungen Apotheker:innen und PTA wollen das nicht mehr. Sie wollen nicht mehr Ausführer von Rabattverträgen und Rezeptgebühren sein. Das ist ein ganz falsches Signal für einen Beruf, der nach wie vor mit Leidenschaft ausgeübt werden muss.“
Seyfarth bestätigt das: „Heute wenden sich viele junge Approbierte wegen all der Bürokratie von der Apotheke ab. Wir haben derzeit sieben PhiP in unseren Betrieben. Und kein einziger will in der Apotheke bleiben.“