Nullretax ist verfassungswidrig APOTHEKE ADHOC, 31.01.2012 14:53 Uhr
Vollabsetzungen der Krankenkassen – besser bekannt als „Nullretax“ – sind aus Sicht der Pharmarechtler Dr. Heinz-Uwe Dettling und Martin Altschwager verfassungswidrig. In einem im Auftrag des Apothekerverbands Nordrhein erstellten Gutachten kritisieren die Anwälte der Stuttgarter Kanzlei Oppenländer insbesondere die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), auf die sich die Kassen um die Rezeptprüffirma Protaxplus stützen.
Nach mehreren Urteilen des BSG verlieren die Apotheken auch bei kleinen Fehlern bei der Belieferung von Rezepten nicht nur ihr Recht auf Vergütung, sondern auch ihren Anspruch auf Wertersatz. Demnach zahlen sie das Arzneimittel aus eigener Tasche, selbst wenn der Patient korrekt versorgt wurde. In ihrem jüngsten Urteil aus dem Jahr 2010 hatten die Richter erklärt, die Nullretaxation sei ein „allgemeines Prinzip“.
Dettling geht das zu weit: Denn im Rechtsverhältnis zwischen Kasse und Apotheke griffen eben auch die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Demnach hätten die Kassen bei Verstößen nur Anspruch auf Nachbesserung, Minderung oder Rückabwicklung, sowie gegebenenfalls Schadenersatz.
Vollabsetzungen ohne Prüfung des Einzelfalls seien dagegen unzulässig: „Das BSG stellt sich außerhalb der gesetzlichen Grundlagen und verstößt damit gegen die Grundrechte der Apotheker“, sagte Dettling gegenüber APOTHEKE ADHOC.
Die Null-Retaxation als Strafe ist aus Sicht der Anwälte zudem willkürlich, weil sie sich zufällig nach dem Preis des Arzneimittels richtet und nicht nach der Schuld des Verursachers. Auch dies sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Das BSG überschreite daher die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung, so Dettling, der für die höchstrichterlichen Entscheidungen noch deutlichere Worte findet: So enthalte die Rechtsprechung des BSG in diesen Fällen „Elemente der Willkür“. Die Null-Retax sei eine „rein richterlich begründete Strafe ohne Gesetz“, heißt es im Gutachten.
Erschwerend hinzu kommt aus Sicht der Anwälte, dass die vom BSG geschaffenen „Vermögensstrafe“ ein „erhebliches Missbrauchspotenzial“ berge: Die Kassen setzten dieses Instrument zunehmend aggressiv zur beliebigen Beschaffung von Finanzmitteln ein.
Damit soll aus Sicht der Anwälte Schluss sein. Der Gesetzgeber müsse klarstellen, dass die – mitunter existenzgefährdenden – Vollabsetzungen unverhältnismäßig seien. Gelegenheit dazu hätte die Regierung im Rahmen der 16. AMG-Novelle, so Dettling. Tatsächlich hatte die Union in ihrem jüngsten Positionspapier zur Novelle eine entsprechende Forderung gestellt.